Als dezent kann man die Tattoos von Melissa Okanovic aus Kohlberg nicht bezeichnen. Ober- und Unterarm, Hände, Hals, Brust, Bauch, beide Oberschenkel, hinterm Ohr - und sogar die Stirn hat sie sich stechen lassen. Foto: oh Quelle: Unbekannt

Von Matthäus Klemke

In diesem Sommer waren sie besonders häufig zu sehen, vor allem, wenn es draußen warm war: Löwenköpfe, Riesenkraken, Schmetterlinge, Totenköpfe, Federn, Sterne, Schleifen, Engelsflügel und Teufelshörner. Hier und da ragt noch ein sogenanntes „Arschgeweih“ aus der Hose, wenn auch sehr selten. Tattoos - das war mal was für harte Seemänner und brutale Mafiosi. Heute hat gefühlt die Mehrheit der Leute eins oder gleich mehrere, egal ob 16-jähriges Mädel oder Rentner. Seit den 90er-Jahren hält der Tattoo-Trend an und ein Ende ist nicht in Sicht. Dabei wurden so viele Trends in dieser Zeit geboren: Che-Guevara-T-Shirts, aufblasbare Möbel, Zaubertrolle und Boy-Bands. Allerdings sind sie alle irgendwann wieder in der Versenkung verschwunden. Nur Tattoos halten sich in der Gesellschaft genauso hartnäckig wie auf der Haut.

„Tattoos sind mit der Punk-Bewegung salonfähig geworden“, sagt Helen Ahner, Kulturwissenschaftlerin am Ludwig-Uhland-Institut in Tübingen. Waren sie früher nur in bestimmten Milieus anzutreffen, sind Tattoos heute Teil unserer Erinnerungskultur: „Mit jedem Tattoo verbindet der Tätowierte eine Geschichte, sei es eine besondere Stelle am Körper, ein bestimmtes Motiv oder die Person, mit der man sich hat tätowieren lassen. Hinzu kommt natürlich immer mehr der modische Aspekt.“

Im Winter Hochbetrieb im Studio

Jessica Kurz hat ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht: Seit drei Jahren ist sie Tätowiererin und hat sich im September in Frickenhausen ihren Traum erfüllt - ein eigenes Tattoo-Studio. „Ich habe immer sehr viel und gerne gezeichnet. Irgendwann wollte ich unter die Haut.“ Und die 26-Jährige hat alle Hände voll zu tun: „Üblicherweise ist im Sommer eher weniger los, die meisten Leute lassen sich im Winter stechen. Das hat sich etwas geändert. Die Leute wollen nicht mehr so lange warten.“ Sie glaubt nicht, dass Tattoos irgendwann wieder aus der Mode kommen: „Es wird seit Jahren immer mehr. Warum sollte es wieder gehen?“ Heute liegt Günther Edler von der Planitz auf der Liege im „Stichatelier“ - so der Name des Studios. Der 49-Jährige möchte sein erstes Tattoo machen lassen: die Namen der Enkelkinder, deren Geburtstage und die Uhrzeit seiner Hochzeit. „Solch persönliche Tattoos sind immer noch sehr beliebt, auch wenn der Trend wieder mehr zu Motiven ohne Bedeutung geht. Besonders beliebt sind gerade Mandalas“, sagt Kurz. Ein Trend innerhalb des Tattoo-Trends - wie einst chinesische Schriftzeichen oder die heute so verpönten „Arschgeweihe“, also Steißbein-Tattoos bei Frauen.

Die Lust auf die Körperkunst zieht sich durch alle Altersschichten: „Meine älteste Kundin war eine 72-jährige Frau, die am Bein operiert wurde und mit einer tätowierten Feder ihre Narbe verdecken wollte“, erinnert sich Kurz. Ein anderer Kunde, der ihr in Erinnerung geblieben ist: „Einem Mann habe ich das sechste Gebot ,Du sollst nicht ehebrechen‘ auf den Unterarm tätowiert. Seine Frau wollte das so.“

Stichelei eine Art Sucht

Ob es häufig vorkommt, dass diese Leute ihre Tattoos bereuen? „Oh ja“, sagt die Tätowiererin. „Es kommen sehr oft Leute zu mir, die Tattoos umändern lassen wollen, zum Beispiel lassen sie den Namen des Ex-Partners überzeichnen. Bei kleinen Sachen wie Schriftzügen geht das auch ganz gut.“ Andere Tattoos lassen sich weniger gut abdecken - da hilft dann nur noch der Laser. Der Nürtinger Hautarzt Joachim Pfeifle hat pro Monat rund zehn Patienten, denen er Tattoos entfernt. Tätowierungen sind in bestimmten Branchen noch immer nicht gern gesehen. Ein großes Tabu waren sichtbare Tattoos für Polizeibeamte - bis zu diesem Jahr: „Seit dem 1. Januar dürfen Polizeibeamte an Ober- und Unterarmen und den Händen dezente und inhaltlich nicht zu beanstandende Tätowierungen im sichtbaren Bereich tragen“, so Carsten Dehner vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration Baden-Württemberg.

Als „dezent“ kann man die Tattoos von Melissa Okanovic aus Kohlberg nicht bezeichnen. Ober- und Unterarm, Hände, Hals, Brust, Bauch, beide Oberschenkel, hinterm Ohr - und sogar die Stirn. Die Haut der 22-Jährigen gleicht einer Leinwand. „Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen, wie viele es sind“, sagt sie. In Geld umgerechnet dürften es mindestens 5000 Euro sein, die ihren Körper zieren.

Sie selbst sagt, dass das Tätowieren eine Art Sucht ist: „Wenn ich ein tolles Motiv sehe, dann muss ich es haben, und am besten sofort.“