Über den Dächern von Esslingen genießt Pfarrer i. R. Christoph Reusch den Ausblick. Foto: Roberto Bulgrin - Roberto Bulgrin

Der Lieblingsplatz von Christoph Reusch ist auf dem Turm der evangelischen Stadtkirche St. Dionys in Esslingen.

Baltmannsweiler/EsslingenWenn er mit seiner Frau Cornelia irgendwo eine neue Stadt erkunden will, besteigt er am liebsten erst einmal einen Turm. „Dann bekomme ich ein Gefühl für einen Ort, von seiner Dimension, von seiner Umgebung“, sagt Christoph Reusch. In Nördlingen hat er es bei seinem ersten Besuch so gehalten, aber auch Städte wie Florenz oder Rom inspizierte der Pfarrer im Ruhestand meist zunächst von oben. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass Reusch einen Turm zu seinen Lieblingsorten zählt. Nicht irgendeinen, sondern den prägendsten der Esslinger Altstadt. Es sind gleich zwei, die beiden Spitze der evangelischen Stadtkirche St. Dionys.

Die Bürger der Gemeinde Baltmannsweiler, in der der aus Bad Urach stammende Theologe seit gut zwei Jahren seinen Ruhestand verbringt, werden ihm verzeihen, dass er St. Dionys und nicht eine schöne Stelle auf dem Schurwald zu seinem Lieblingsplatz erkoren hat. Aber von dort oben auf die ehemalige Freie Reichsstadt herabzuschauen und sich an dem einmaligen Panorama zu erfreuen, verdient zweifellos das Prädikat „herausragend“.

Schon etliche Male hat sich Reusch die exakt 200 Stufen – er hat sie selbst gezählt – hochgeschraubt, um den grandiosen Blick zu genießen. Oben angekommen, kann er sich gar nicht satt genug sehen. Natürlich holt der Hobbyfotograf gleich seine Kamera aus dem Rucksack, um Bilder zu machen. Besonders der Blick auf die Frauenkirche hat es ihm angetan. „Einmal ohne Gerüst, das gab es viele Jahre nicht.“

Anlässlich des Besuchs hat der 67-Jährige ein wenig nachgelesen in der Geschichte von St. Dionys. Gemerkt hat er sich, dass die ersten Teile der heutigen Kirche um 1200 entstanden sind. Dass die beiden Türme von einer Brücke zusammengehalten werden, ist eine Rarität. Ende des 16. Jahrhunderts hatte man die Verbindung aus Gründen der Stabilität geschaffen. Ursprünglich mit zwei Brücken, wovon eine um 1859 beseitigt wurde. Durch den Gang in der heutigen Brücke gelangt man in die frühere Türmerwohnung. Bis vor rund 100 Jahren lebte hier im Südturm ein Türmer mit seiner Familie, wie in einem Führer nachzulesen ist. Die Verbindung zwischen den beiden grundverschiedenen Türmen von St. Dionys findet Reusch schon deshalb besonders, weil er darin ein schönes Symbol sieht: „Eine Kirchengemeinde, die in ihrer Verschiedenartigkeit zusammengehalten wird.“ Genau darin habe er immer seine Aufgabe als Pfarrer gesehen. „Brücken bauen, das war immer mein Job.“ Mit seiner Frau, die als Pfarrerin im geriatrischen Zentrum in Esslingen-Kennenburg arbeitet, lebt Christoph Reusch in Hohengehren. Knapp sieben Jahre lang war er auf dem Schurwald evangelischer Seelsorger. Zuvor betreute er 15 Jahre lang eine Pfarrstelle in Deizisau. Die freie Zeit, die Reusch nun im Ruhestand hat, genießt er ganz bewusst. Jetzt kann er sich großen Chorprojekten widmen. Mit der Plochinger Kantorei hat er bereits die Matthäus-Passion gesungen. Zur Zeit studiert er mit dem Oratorienverein Plochingen das Mozart-Requiem ein, das im Oktober aufgeführt werden soll. „Das alles habe ich während meiner aktiven Zeit als Pfarrer leider nicht geschafft“, sagt er. In der Flüchtlingsarbeit in Baltmannsweiler hat er sich ebenfalls engagiert. Einem jungen Afghanen brachte er Mathematik bei, damit er den Hauptschulabschluss schaffte.

Bücher sind mehr denn je seine Leidenschaft. Sehr gerne vertieft sich Reusch beispielsweise in Stefan Zweig und seine Gedankenwelt. Und er findet nun endlich Zeit und Muße, Italienisch zu lernen. Das Gelernte kann er im September gleich in der Praxis umsetzen. Denn mit seiner Frau will er zwei Wochen lang durch Rom und Umgebung streifen. Und sicher werden die beiden wieder Türme besteigen.