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Im Kreis Esslingen sind günstige Wohnungen praktisch unauffindbar. Doch vielen Hartz-IV-Empfängern wird die Miete nicht voll erstattet, weil die Obergrenze zu gering ist. Das bringt Arme in Bedrängnis.

Kreis EsslingenEs gibt immer jemanden, der einem einen Stein in den Weg legt. Es kann doch nicht sein, dass wir immer die Dummen sind.“ Claudia Schöggl ist eine Kämpfernatur, aber manchmal packt sie der pure Frust. Als Bezieherin von Hartz IV hat sie im Monat 417 Euro für ihren Lebensunterhalt zur Verfügung. Oft weiß sie nicht, wie das Geld bis zum Monatsende reichen soll. Die 54-jährige Lichtenwalderin ärgert sich darüber, dass man Arbeitslosen wie ihr beispielsweise kein Sozialticket für öffentliche Verkehrsmittel gewährt und auch nicht die Kosten für eine Haftpflichtversicherung übernimmt. Aber noch viel mehr bringt Schöggl auf die Palme, dass das Jobcenter die Kaltmiete von 450 Euro, die sie für ihre 50-Quadratmeter-Wohnung bezahlen muss, als unvertretbar hoch einstuft.

Angemessen seien für Lichtenwald 385 Euro, mehr werde sie nicht erhalten, hatte ihr das Jobcenter im September 2017 mitgeteilt. Nur für eine Übergangsfrist von sechs Monaten zahle man den höheren Betrag. Das heißt, die Differenz von 65 Euro müsse Schöggl selbst übernehmen. „Wie soll das gehen bei nur 417 Euro, die ich im Monat bekomme?“, fragt sie. Ihre Situation hat sich mittlerweile etwas entspannt. Denn das Jobcenter zahlt jetzt doch bis auf Weiteres die höheren Kosten.

„Urteil muss für alle gelten“

Akzeptieren will die 54-Jährige das Vorgehen der Behörde dennoch nicht. Denn sie ist der Überzeugung, dass die Mietobergrenzen im Landkreis Esslingen viel zu niedrig angesetzt sind. Sie bezieht sich dabei auf ein Urteil vom Dezember 2016. Das Sozialgericht Stuttgart stellt darin fest, dass die Richtlinien des Landkreises zu den Mietobergrenzen für 2014 nicht die Anforderungen des Bundessozialgerichts an ein schlüssiges Konzept erfülle. Der Klage eines Mieters aus Neuhausen wurde damals stattgegeben. „Fehlt ein schlüssiges Konzept, sind grundsätzlich die tatsächlichen Aufwendungen der Kläger zu übernehmen“, entschied das Sozialgericht. „Das Urteil regelt nicht nur einen Einzelfall“, sagt Frieder Claus, der für Heimstatt Esslingen seit Jahren unabhängige Hartz-IV-Beratung macht. Der Landkreis sei „rechtsstaatlich gehalten, dieses Recht für seine Leistungsberechtigten umzusetzen“. Dies müsse für alle Hartz-IV-Bezieher gelten, „nicht nur für die, die Kenntnis davon haben, dass man einen Antrag stellen kann“.

In den politischen Gremien des Landkreises sorgt das Thema seit Langem für Zündstoff. Man warte auf eine Regelung des Bundes, hieß es im Dezember 2017 im Sozialausschuss des Kreistags. Die SPD-Fraktion hatte zuvor beantragt, der Landkreis möge die Mietkosten für Empfänger von Arbeitslosengeld bis zur Obergrenze des Wohngeldes plus zehn Prozent Zuschlag erstatten. Doch dies lehnte die Mehrheit im Sozialausschuss ab. Sozialamtsleiterin Regina Lutz berichtete damals, dass man ein externes Büro beauftragt habe, die Ortsmieten zu erheben und auf dieser Basis ein „schlüssiges Konzept“ zu erstellen – so wie es vom Gericht angemahnt worden war.

Dieses liege nun vor, erklärt Peter Keck, der Sprecher des Landratsamtes, auf EZ-Nachfrage. Zum Inhalt könne er noch nichts sagen, nur so viel, dass die Mietpreise von 13 000 Wohnungen dafür erhoben worden seien, aber das Konzept werde bald („noch vor der Sommerpause“) in einem der zuständigen Gremien behandelt. „Wir haben unsere Aufgaben gemacht“, betont Keck. Vor allem wehrt er sich gegen den Vorwurf, der Landkreis handle bei der Übernahme von Mietkosten unrechtmäßig. Das genannte Urteil beziehe sich auf einen Einzelfall. Im Vorfeld habe man schon reagiert und die Sätze für die Mietobergrenzen pauschal um 6,6 bis 8,1 Prozent erhöht. Da das vom Bund schon 2015 angekündigte Konzept ausgeblieben sei, habe man nun selbst die Initiative ergriffen und eine Unternehmensberatung eingeschaltet. Verzögerungen könne man dem Landkreis daher nicht vorwerfen. Dass für Hartz-IV-Bezieher, die in zu teuren Wohnungen leben, große Hürden aufgebaut werden, sei ebenfalls nicht richtig. Zum einen bekomme jeder sechs Monate lang den vollen Preis bezahlt. Für eine weitere Kostenübernahme müsse man per Formular den Nachweis erbringen, dass man sich um eine günstigere Wohnung bemüht hat. Keck: „Wir machen das den Leuten relativ einfach.“ Dass das neue Konzept das Problem befriedigend löst, glaubt Keck nicht. In der Region gebe es viel zu wenig Wohnungen für Menschen mit kleinem Geldbeutel. Allein im Landkreis müssten jedes Jahr 600 Sozialwohnungen geschaffen werden, um die Situation zu entspannen.

„Vorgehen ist empörend“

Christian Fritz, Rechtsanwalt für Sozialrecht aus Freiburg, hält das Vorgehen des Landkreises für „empörend“. Es könne doch nicht sein, „dass nur, wer sich wehrt, Recht bekommt“. Fritz: „Da läuft grundsätzlich was schief.“ Viele Leute hätten Angst, ihr Recht zu erstreiten. Das vom Landkreis angekündigte neue Konzept sieht der Anwalt jetzt schon mit Skepsis. Die Daten müssten transparent sein. Die zuständigen Behörden müssten mit offenen Karten spielen und darlegen, wie sie auf die Zahlen kommen.

Frieder Claus vom Verein Heimstatt Esslingen hält die aktuelle Situation für völlig unbefriedigend. Er geht davon aus, dass von den rund 20 000 Hartz-IV-Empfängern im Landkreis 15 Prozent, sprich rund 3000 Personen, wegen angeblich zu hoher Mieten in der Bredouille sind. Das sei „erschreckend“. In vielen Fällen löse das große Not aus. Besonders hart sei es, wenn Familien betroffen seien. Die Differenz von oftmals bis zu 250 Euro müsse man sich vom Mund absparen. Er kann allen nur raten, sich zur Wehr zu setzen.

Sechsköpfige Familie in einer prekären Situation

Die Schieflage der Mietobergrenzen des Landkreises Esslingen wird deutlich in einem Vergleich der sechs Stadt- und Landkreise des Mittleren Neckarraums. Nach einer Auswertung der Arbeitsagentur von November 2017 übernimmt der Kreis Esslingen von den Kaltmieten seiner Hartz-IV-Mieter monatlich 171 205 Euro nicht und hat mit 4,1 Prozent die höchste Unterdeckung in der Region. Im Vergleich mit Stuttgart als dem Kostenträger, der die Wohnkosten seiner hilfebedürftigen Bürger mit einer Unterdeckungsquote von 1,6 Prozent am verlässlichsten abdeckt, ist dies etwa der zweieinhalbfache Fehlbetrag. Im Rems-Murr-Kreis beträgt die Quote 2,6 Prozent, im Landkreis Göppingen 2,9 Prozent, im Landkreis Ludwigsburg 3,1 Prozent und im Landkreis Böblingen 3,2 Prozent.

Zwei weitere Fälle, die der EZ durch die Hartz-IV-Beratung von Heimstatt Esslingen bekannt sind:

Fall 1: Einem 64-jährigen Denkendorfer, der seinen Job Ende August 2017 wegen Krankheit verlor, habe das Jobcenter wegen „unangemessener Höhe“ die Miete von 450 auf 350 Euro gekürzt. Nach einem fristgerechten Widerspruch, so Heimstatt-Berater Frieder Claus, habe man bislang die Kosten bis zur Wohngeldgrenze plus einen Sicherheitsaufschlag von zehn Prozent gewährt. Doch müsse der 64-Jährige auf den Zuschlag verzichten. Statt 100 Euro müsse er immer noch 56 Euro von seinem Hartz-IV-Geld zusätzlich für die Miete berappen.

Fall 2: Bei einer sechsköpfigen Familie aus Esslingen werden von der Kaltmiete in Höhe von 1000 nur 785 Euro übernommen. Die fehlenden 215 Euro bringen laut Frieder Claus „die Familie in schwere Existenznot. Inzwischen sind über 2000 Euro Privatschulden entstanden und es gibt niemanden, der der Familie etwas leiht.“