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An baden-württembergischen Hochschulen gibt es immer mehr Studiengänge. Studenten behalten da nur schwer den Überblick. Und ihre Allgemeinbildung ist in Gefahr.

Kreis EsslingenHaben junge Leute früher Maschinenbau, Betriebswirtschaft oder Geschichte auf Lehramt studiert, also Studiengänge, unter denen sich fast jeder etwas vorstellen konnte, ist heute (fast) alles anders. Die Hochschule Pforzheim hat nun Accessoire Design im Programm. In Freiburg wird Culinary Arts and Food Management gelehrt, Neudeutsch für Betriebswirtschaft in der Gastronomie, in Geislingen nachhaltiges Produktmanagement.

Seit der Umsetzung der Bologna-Reformen, also der Umstellung von Magister- und Diplom-Abschlüssen auf Bachelor und Master in den 2000er Jahren, sind die Hochschulen bei der Schaffung neuer Studiengänge äußerst produktiv. Gab es vor zehn Jahren zum Wintersemester 2007/2008 laut Hochschulrektorenkonferenz (HRK) in Baden-Württemberg 1678 Studiengänge an Universitäten, Fach- und Kunsthochschulen, waren es in diesem Wintersemester 2620. Ein Zuwachs um 56 Prozent. Auch an der Hochschule Esslingen ist die Tendenz steigend: Konnten sich Studenten im Studienjahr 2007/2008 noch zwischen 20 verschiedenen Bachelor-Studiengängen entscheiden, ist ihre Auswahl heute um 25 Prozent auf 25 Studiengänge angestiegen. Noch stärker ist der Zuwachs der Masterstudiengänge: 13 Studiengänge warten hier nach Angaben von Sabine Svoboda von der Hochschule Esslingen auf potenzielle Studierende – zehn Jahre zuvor waren es noch acht. Hier beträgt die Steigerung 62,5 Prozent.

In Deutschland insgesamt ist der Zuwachs noch größer: 2007 gab es 11 265 Studiengänge, heute kann sich ein Student zwischen 19 011 Studiengängen entscheiden - eine Zunahme um 68 Prozent. Dabei kennt die Kreativität keine Grenzen: In Berlin wird Rehabilitationspädagogik angeboten, in Hamburg Coffeemanagement, in Karlsruhe Citizenship and Civic Engagement - ein bunter Mix aus Politik- und Rechtswissenschaft.

Die Zahl der Studiengänge explodiert aber nicht deshalb so stark, weil sich wissenschaftliche Erkenntnisse im selben Maß vervielfacht hätten, sondern weil eine immer stärkere Spezialisierung um sich greift. „Was einmal zwei Hauptseminare waren, wird heute in einen ganzen Studiengang gepackt“, kritisiert Michael Hartmer, Geschäftsführer des Deutschen Hochschulverbands, der Interessenvertretung der Hochschullehrer. „Die Generalistik bleibt dabei auf der Strecke.“

Jürgen Koch, Professor für Mathematik und Dekan an der Fakultät Grundlagen an der Hochschule Esslingen, plädiert für eine gute Mischung: „Natürlich braucht man die Generalistik, um Fächer im Kern zu verstehen. Eine gute Grundlage ist unverzichtbar. Gleichzeitig braucht man aber auch eine hohe Spezialisierung. Unternehmen sind heute in ihren Anforderungen an Hochschulabsolventen viel zielgerichteter und suchen Leute, die über eine bestimmte Spezialisierung verfügen.“ Die Gefahr eines überbordenden Spezialistentums sieht er zumindest für die Hochschule Esslingen nicht: „Esslingen hat sich im Vergleich zu vielen anderen Hochschulen für den steinigen Weg entschieden. Wir haben uns nicht so sehr spezialisiert und sind bei klassischen Studiengängen wie Informatik oder Maschinenbau geblieben – auch wenn es das manchmal schwieriger macht, die Studierenden zu überzeugen.“ Exotisch klingende Studienfächer sind in Esslingen tatsächlich rar.

Der Wissenschaftsrat schlug bereits vor einiger Zeit Alarm. Die vom Bundespräsidenten berufenen Experten, die die Politik in Hochschulfragen beraten, warnten vor dem Wildwuchs vor allem bei Bachelorstudiengängen. Diese dürften „nicht durch Überspezialisierung den Berufseinstieg und die berufliche Entwicklung erschweren“, heißt es. In Zeiten, in denen jeder Zweite eines Jahrgangs eine Hochschule besuche, sei die Frage nach der Arbeitsmarktrelevanz eines Studiums von hoher Bedeutung. Es müsse vermieden werden, dass die Hochschulen esoterische Qualifikationen in großer Zahl hervorbrächten, von denen man weder als Angestellter noch als Freiberufler leben könne.

Auch den Hochschulen scheint die Entwicklung nicht mehr ganz geheuer. „Ein Studienangebot sollte vor allem nicht so speziell sein, dass die Studierenden auf ein zu kleines Arbeitsmarktsegment festgelegt sind“, sagt der Präsident der HRK, Horst Hippler, unserer Zeitung. „Grundsätzlich sollte ein Bachelor-Studium die Grundlagen eines Fachs vermitteln und noch nicht zu stark spezialisieren.“

Treibende Kraft hinter der zunehmenden Einengung der Studiengänge ist neben der Akademisierung früherer Lehrberufe vor allem der Wettbewerb: Mit geschicktem Studiengang-Marketing und über berufsbezogen klingende, speziell zugeschnittene Studiengänge wollen Hochschulen Bewerber anlocken. Dem stimmt auch Koch zu: „Die Bezeichnung des Studienganges ist auch ein Marketingkonzept.“ Biete eine Hochschule etwa Digital Design und Management an, ist das oft genau das, was bei vielen 20-Jährigen ankommt. „Viele versuchen, Trends nicht zu verschlafen und jagen anderen hinterher. Eine Hochschule ist ein dynamisches System.“

Viele Studiengänge werden zudem in schicke Anglizismen gepackt. Damit lässt sich Internationalisierung verkaufen. Ob es diese dann wirklich gibt, steht auf einem anderen Blatt. Was früher Betriebswirtschaft war, heißt heute Economics and Business Administration, Organisationspsychologie ist heute Business Psychology. „Je cooler der Name des Studiengangs, desto mehr Studenten interessieren sich“, sagt der Berufsberater Jörg-Michael Wenzler von der Arbeitsagentur in Esslingen. „Das gilt für die staatlichen Hochschulen und noch viel mehr für die privaten.“ Wichtige Signalwörter in der Werbeschlacht seien „international“, „interkulturell“ oder „Marketing“.

Ein weiterer Grund ist der Wettbewerb unter den Professoren, die sich gerne mit der Einrichtung eines Studiengangs verewigen. „Die Errichtung neuer Studiengänge ist eine Leistung des Professors, die honoriert wird“, sagt Harmer vom Hochschulverband. Das Geld ist auch an anderer Stelle die treibende Kraft: Das Land, das die Hochschulen über die Zuteilung staatlicher Mittel mitsteuert, fördert über die Profilbildung auch die Zerfaserung der Studiengänge, um so die - politisch gewünschten - steigenden Studentenzahlen aufzufangen.

Die Leidtragenden der wachsenden Unübersichtlichkeit sind Schüler und Studenten. „Bei so vielen Studiengängen ist es anfangs gar nicht leicht herauszufinden, was ein Studiengang wirklich beinhaltet“, sagt Fritz Otlinghaus von der Studierendenvereinigung der Universität Stuttgart. „Und für einen Schüler, der sich kurz nach dem Abi an einer Uni bewirbt, gilt das noch viel mehr“, meint der 23-Jährige. Reiner Laue, seit 20 Jahren Studienberater an der Uni Stuttgart , bestätigt die Verunsicherung: „Viele Studierende sehen das Problem zunächst bei sich.“ Durch die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre und den Wegfall von Wehr- und Zivildienst sei die Wahl des Studiengangs für viele auch „die erste große eigene Entscheidung ihres Lebens“, so Laue.

Die zuständige Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) zeigt bisher nur ein geringes Problembewusstsein. Der Anstieg der Studiengänge erkläre sich „größtenteils durch die Umstellung fast aller Studiengänge auf das gestufte Studiensystem“, also auf Bachelor und Master, wiegelte sie in einer Antwort auf eine Anfrage der CDU-Fraktion im Mai 2017 ab. Die Studiengang-Statistik ihres Ministeriums verzeichnet - aufgrund anderer Zählweise als die Hochschulrektorenkonferenz - eine geringere Zunahme von Studiengängen: 1489 waren es im Wintersemester 2006/2007, zehn Jahre später sind es 348, also 23 Prozent mehr. Die zunehmende Ausdifferenzierung zeigt sich aber auch in ihren Zahlen: So explodierte die Zahl der Bachelorstudiengänge im selben Zeitraum um 91 Prozent von 482 auf 919.

Handlungsbedarf sieht sie offenbar keinen. Stattdessen gibt es aus ihrem Haus nur die übliche Pauschalverteidigung fürs Studieren: Unter Akademikern gebe es im Südwesten praktisch keine Arbeitslosigkeit, so ein Sprecher. „Dies ist ein deutlicher Beleg für die zielgerichtete Ausbildung der Studierenden.“ Dabei sagt diese niedrige Arbeitslosenrate noch nichts über die tatsächlichen Tätigkeiten der Hochschulabsolventen oder den beruflichen Nutzen ihres Studiums aus.

Die Wirtschaft, die sich wiederholt unzufrieden über Bachelor-Absolventen geäußert hat, steckt in einem Zielkonflikt. Der Unternehmer Peter Kulitz, Präsident der Industrie- und Handelskammer Ulm, beklagt zwar, dass es den Unternehmen schwerfalle, im „Dickicht“ der Studiengänge den Durchblick zu bewahren. Außerdem fordert er von den Absolventen mehr „übergreifende fachliche und persönliche Kompetenzen“. Gleichzeitig erwartet er noch mehr Anwendungsorientierung. „Die Sicherstellung der Beschäftigungsfähigkeit sollte das oberste Ziel sein.“ Die Spezialisierung an den Hochschulen schreite so weiter voran. Michael Hartmer vom Hochschulverband bedauert das: „Statt die Berufsfähigkeit zu fördern, ethische Werte und eine für viele Berufe befähigende Bildung zu vermitteln, verengen die Hochschulen ihre Ausbildung zu sehr auf konkrete Berufsfertigkeiten.“

Was Anfänger studieren

Beliebt: Im Wintersemester 2016/17 haben laut Statistischem Landesamt 64 404 Studenten erstmals ein Studium an einer Hochschule in Baden-Württemberg begonnen. Die meisten (36 Prozent) entschieden sich für die Fächergruppe Rechts- , Wirtschafts-und Sozialwissenschaften. Auf Platz zwei folgen die Ingenieurwissenschaften mit 20 584 Studenten (32 Prozent), gefolgt von den Geisteswissenschaften mit 7048 (10,9 Prozent). Auf der Beliebtheitsskala dahinter auf Platz vier rangieren Mathematik und Naturwissenschaften mit 6745 Studenten (10,5 Prozent). Auf Platz fünf folgen Humanmedizin/Gesundheitswissenschaften mit 2628 (4,1 Prozent).

Unterschiede: Differenzen zwischen männlichen und weiblichen Studienanfängern fallen deutlich aus: Knapp 48 Prozent der männlichen Anfänger studieren Ingenieurwissenschaften, gut 28 Prozent Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Mit einem Anteil von 10 Prozent rangieren Mathematik/Naturwissenschaften auf Platz drei. Bei den Frauen liegen dagegen die Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften mit einem Anteil von knapp 44 Prozent an erster Stelle, gefolgt von den Geisteswissenschaften mit rund 16 Prozent. Die Ingenieurwissenschaften kommen mit 16 Prozent auf den dritten Platz.