Joachim Hahn (rechts) hat lange in Hundertwassers Vergangenheit geforscht. Foto: Ait Atmane - Ait Atmane

Der Theologe Joachim Hahn zeichnet in seinem Vortrag über Friedensreich Hundertwasser ein genaues Bild der jüdischen Vergangenheit des Künstlers.

Kreis EsslingenManche Plochinger sehen seit Mittwoch den Regenturm von Friedensreich Hundertwasser mit anderen Augen. Und auch die Farbenfreude und Verspieltheit des Künstlers hat für sie durch einen Vortrag von Joachim Hahn eine neue, tiefe Dimension bekommen. Der Theologe und ausgewiesene Experte der jüdischen Geschichte spürte in der Plochinger Stadthalle den jüdischen Wurzeln des Künstlers nach.

Man kennt ihn als Naturmenschen und Umweltschützer, als Rebell, der der geraden Linie und der strengen Geometrie seine organischen Formen und Farben entgegensetzt. Gedanken an Tod, Angst und Trauer ruft diese fröhliche Buntheit nicht hervor. Doch mit gutem Grund hat Joachim Hahn seinem Vortrag, der im Rahmen des Jubiläums „25 Jahre Wohnen unterm Regenturm“ stattfand, den Titel „Tränen des Künstlers“ gegeben. Diese Tränen sind rot, blutrot, und tauchen immer wieder in Hundertwassers Werken auf. Mal deutlich erkennbar, mal etwas versteckter, mal gemischt mit blauen Tränen. Im Bild von 1966 („Haus, geboren in Stockholm…“) malt sich der Künstler selbst, solche roten Tränen weinend. Viele andere Werke greifen dieses Motiv auf. Dass das keine Überinterpretation der roten Farbe ist, belegen die Titel der Bilder, in denen häufig Blut vorkommt.

„Blut und Tränen gehören als feste Symbole zum Werk Hundertwassers“, sagte Hahn und nahm Bezug auf die Kindheit des Künstlers im nationalsozialistischen Österreich. Seine Mutter ist Jüdin, sein Vater römisch-katholisch, er selbst wird 1934 als Sechsjähriger getauft und gehört zur zweiten Generation der jüdischen Herkunftsfamilie, die in Wien aufwächst. Zur Zeit des „Anschlusses“ Österreichs im Jahr 1938 ist er zehn Jahre alt. Sein Vater ist da schon lange verstorben, die Mutter und er zählen, trotz seiner Taufe und Mitgliedschaft in der Hitlerjugend, als Juden oder Halb-Juden. Sie müssen in die zum jüdischen Ghetto erklärte Leopoldstadt umziehen und leben dort in einem kleinen Zimmer in der Wohnung von Tante und Großmutter. Diese werden beide von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet, wie auch 69 weitere Verwandte. Hundertwasser und seine Mutter überleben, aber leben in ständiger Angst. Dieses Trauma hat den Künstler tief geprägt. Er habe das Gefühl, schrieb er 1979 im Zusammenhang mit einer Ausstellung, „als ob all die ermordeten Menschen aus der Familie meiner Mutter mich dazu ausersehen und beauftragt haben etwas Bedeutendes zu tun, das stärker und größer sein soll als all das, was sie alle zusammen hätten tun können, würden sie noch leben.“

„Ernte von Träumen“

Werke wie „Judenhaus in Österreich“ oder „Der Blutgarten“ erinnern an die Ghetto-Erfahrung, sie zeigen traurige Häuser, eingezäunte Grundstücke ohne Ausweg und Blutspuren, die sich zu Seen vereinigen. Mit diesen Bildern im Kopf erscheinen auch die symbolischen Wasserspuren an seinen Gebäuden in neuem Licht – zum Beispiel die roten, senkrechten Fliesenbahnen am Plochinger Regenturm. Tatsächlich waren im ersten Modell der Wohnanlage alle Regenspuren blau eingetragen, berichtete Hahn. Erst bei der zweiten Version hat Hundertwasser sie rot gestaltet, eingefasst von zarten, blauen Linien. Was den Künstler wohl zu dieser Veränderung bewogen hat? Sehr nachdenklich stellte Hahn diese Frage in den Raum. Fließt da Blut auf den deutschen Boden?

Ähnlich überraschend und auch erschreckend ist die Sicht auf Hundertwassers bunt zusammengewürfelte, unregelmäßige Fensterlandschaften. Natürlich sind sie eine Hommage an die Natur, eine Rebellion gegen die technisierte Welt und die Eintönigkeit. Aber nicht nur das, wie der Künstler selbst 1990 in einem Beitrag zu einer Ausstellung schrieb: „Die Repetition immer gleicher Fenster nebeneinander und übereinander wie im Rastersystem ist ein Merkmal der Konzentrationslager.“

Hahn betrachtete weitere typische Motive des Österreichers unter diesem Blickwinkel. Die Spirale, Gleichnis für das Leben und den Kreislauf aus Geburt und Tod, sehen manche Rezensenten auch als Irrgarten ohne Entkommen. Und dass seine Häuser teilweise komplett unterm Gründach verschwinden, verweist über den ökologischen Ansatz hinaus auf eine schützende Höhle: „Ich wäre gerne ein Maulwurf (…), würde gern unter der Erde leben (…) wenn wieder Panzer anrollen“, wird Hundertwasser zitiert. Hundertwasser selbst hat seine Bilder als die „Ernte von Träumen“ bezeichnet. Wer sie verstehen wolle, müsse diese Träume hinter ihnen sehen, sagte Joachim Hahn – und damit auch manchen Alptraum.

Der Theologe hatte sich mit der Kindheit Hundertwassers beschäftigt, weil ihn immer wieder Freunde auf dessen jüdische Wurzeln angesprochen hatten. Was er in seiner akribischen Recherche herausfand – von der nachlassverwaltenden Hundertwasserstiftung sehr gelobt – hat ihn berührt und erschüttert. Den gut 150 Zuhörern ging das genauso.