Eine Teilnehmerin erzählt von den schweren Anfängen nach der Vertreibung. Rechts der Moderator Roland Geltz. Foto: Ait Atmane - Ait Atmane

Die Kinder allein groß ziehen und am Nötigsten knappsen: Das war die Situation vieler Frauen im Zweiten Weltkrieg. Anerkennung wurde ihnen dafür nicht zuteil.

DeizisauDie Mutter, die unter schwierigen Umständen alleine die Kinder großzieht – das ist nicht nur ein Mythos, es war für viele Kriegs- und Nachkriegskinder die Realität. Roland Geltz, Vorstandsmitglied des Esslinger Stadtseniorenrates, gehört zu ihnen. Er lud am Mittwoch in die Deizisauer Zehntscheuer zum Erzählcafé mit dem Thema „Unsere Mütter während des Zweiten Weltkriegs“ ein. Und erzählt wurde an diesem Nachmittag eine Menge.

Roland Geltz hat zwei große Fotos seiner Mutter aufgehängt, ein Einzelbild und eines von 1943 mit den drei bereits geborenen ihrer vier Jungs. Es ist eine schöne Frau, aufrecht, die mit offenem Blick in die Kamera schaut. Sie hat die Kinder alleine großgezogen; der Vater blieb nach Kriegsende vermisst. Um die Jungs durchzubringen, arbeitete sie tagsüber bei Bauern in der Landwirtschaft und strickte abends Pullis, die sie verkaufte. Berührend schildert Geltz, wie er seine Mutter einmal in der Nacht mit dem Stuhl auf dem Esstisch sitzend antraf – weil es unter der Zimmerdecke ein bisschen wärmer war, wie sie ihm erklärte.

Der 83-Jährige spricht mit Bewunderung und Stolz von dieser Frau, die wie so viele andere „das Steuer übernahm, als die Männer im Krieg waren“. Als Heldinnen seien sie dafür nicht gefeiert worden, anders als die Soldaten an der Front. Und nicht alle seien „automatisch wieder zurückgetreten“, als ihre Männer zurückkehrten, was auch zu Spannungen in den Familien führte. „Die Männer waren ja auch …“, sagt einer der Teilnehmer der Erzählrunde und deutet mit einer Handbewegung an, dass sie psychisch nicht im Lot waren. „Ja, die waren traumatisiert“, sagt Geltz.

Knapp 20 Männer und Frauen haben sich zum Erzählcafé eingefunden, das von der Volkshochschule, der Seniorenberatungsstelle Deizisau und der Zehntscheuer veranstaltet wird; die Ältesten sind 90 Jahre alt. Die Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit, bei manchen an Flucht und Vertreibung, sind tief eingegraben. Die Leistung der Mütter, der Frauen, wurde damals nicht unbedingt gewürdigt, wahrscheinlich als selbstverständlich hingenommen. Aber sie habe sich mit Blick auf ihre Mutter schon gefragt: „Wie kann ein Mensch das ertragen?“, erinnert sich eine Teilnehmerin, die als Elfjährige mit ihrer Mutter und den Geschwistern eine dramatische Flucht aus Schlesien durchmachte.

Die Not und das beengte Wohnen werden in der Runde immer wieder thematisiert: ganze Familien in einem Zimmer, die Toilette gemeinschaftlich mit den Nachbarn. Geltz kann es mit Zahlen untermauern: Damals hatte jeder Einwohner in Deutschland durchschnittlich 4,3 Quadratmeter zur Verfügung, heute genau zehn Mal so viel. Manchmal klappte das problemlos, „man ist zusammengerückt und es hat funktioniert“, sagt ein Teilnehmer. Andere haben es anders erlebt; und die Vertriebenen fühlten sich keineswegs immer willkommen. „Flichtling“ war ein Schimpfwort, bestätigen alle.

Auch die Wittfrauen, die alleinerziehenden Mütter, hatten es schwer. „Die mussten unheimlich viel von Nachbarn und allen möglichen Leuten ertragen“, erinnert sich eine Deizisauerin. Für Jüngere ist das vielleicht die überraschendste Erkenntnis an diesem Nachmittag: dass diese Frauen oft sogar noch benachteiligt wurden, zum Beispiel bei der Ausgabe von Lebensmittel- oder Kohlegutscheinen, wie Geltz sich erinnert. Sie hatten keine Lobby und niemanden, der ihre Rechte durchsetzte. Eine Frau, die als Kind die Dresdner Bombennächte erlebte, weiß, dass ihre Mutter mit dem Kinderwagen zuerst aufs gefährliche Terrain nach draußen geschickt wurde: „Es war halt so.“ Geklagt habe keine.

Unterm Dach der Zehntscheuer geht es auch um Ährenlesen und Kartoffelaufklauben, um die abenteuerlichen Seiten, die Kinder durchaus im Krieg erlebten, um damaliges „Upcycling“ – alte Pullis wurden aufgeribbelt und neu gestrickt, Kleider aufgetrennt und neu genäht. Jemand erzählt von einem Kriegsgefangenen, der seine „Herbergs-Familie“ schützte, als die eigenen Truppen ankamen. Oder auch vom Anblick des ersten dunkelhäutigen Soldaten, der den kleinen Buben schreiend in den Keller flüchten ließ.

„Das Vorhaben, nur beim Thema Mütter zu bleiben, das wird nicht klappen“, stellt Geltz zwischendrin fest. Überrascht ist er davon nicht. Einige Male nimmt er den roten Faden wieder auf, lässt die Leute aber auch einfach erzählen. „Ich finde es gut, dass man darüber redet, denn im Alter kommen die Erinnerungen an die frühe Kindheit verstärkt wieder“, sagt ein Teilnehmer. Diese Erfahrung macht der Moderator in solchen Runden und auch im eigenen Bekanntenkreis immer wieder. Manchmal kann das verdrängte frühere Leid auch zur späten Depression führen, weiß er. Es sei aber auch wichtig, den Jüngeren zu vermitteln, „wie wir überlebt haben“, erklärt ein Besucher: Damit sie ihre Situation wertschätzen. Geltz zieht noch eine andere Konsequenz aus den Erinnerungen: Man solle anständig miteinander umgehen und „gut zu sich selbst sein, damit man gut zu anderen sein kann.“