Isabel Cerda hat das Projekt „Gesellschaft sind wir alle“ gestartet . Foto: Caroline Holowiecki - Caroline Holowiecki

Eine Betroffene aus Lenningen berichtet und erzählt von ihrem neuen Projekt „Gesellschaft sind wir alle“.

Kreis EsslingenIsabel Cerdas große Leidenschaft ist das Fotografieren. Wo immer sie hingeht, hat sie eine Kamera dabei und setzt Menschen, Landschaften und Veranstaltungen in Szene. Sie mag Mittelaltermärkte, Hunde und Rollenspiele. Sie liebt Esslingen über alles und erzählt lebhaft davon.

Es braucht eine Weile, bis man bemerkt, dass Isabel Cerda ein bisschen anders ist. Dass sie jeden Blickkontakt meidet. Dass, während sie in die Ferne schaut, die Finger ihrer linken Hand rastlos kneten. Isabel Cerda hat das Asperger-Syndrom, eine milde Variante des Autismus. „Viele haben ein völlig falsches Bild. Sie erwarten, dass ich ein Mathe-Genie bin oder Telefonbücher auswendig lerne. Manche sprechen mir auch soziale Fähigkeiten ab.“ Anders als bei Autisten anderer Prägung sind beim Asperger-Syndrom weder die Intelligenz noch die Sprache betroffen. Am meisten Probleme macht der 35-Jährigen das Thema Stressanfälligkeit und Reizüberflutung. Sie könne schwer filtern. „In einem voll besetzten Lokal kann ich mich nicht unterhalten“, erklärt sie. Immer wieder komme es bei zu viel Lärm, optischen Eindrücken oder unangenehmen Gerüchen zum Overload. Der Körper reagiere wie bei einer Panikattacke: Orientierungslosigkeit, Überforderung, Fluchtimpuls. Darüber hinaus sei ihre Motorik beeinträchtigt. „Ich schmeiße oft etwas um oder mir fällt etwas runter.“ Schwierigkeiten bereite ihr auch das Erkennen von Ironie. Sie nehme die Dinge wörtlich.

Die Ursachen für Asperger sind nicht abschließend erforscht. Die komplexe Entwicklungsstörung, benannt nach dem Wiener Kinderarzt Hans Asperger, kommt laut dem Bundesverband Autismus bei bis zu drei von 1000 Personen vor. Prominenteste Vertreterin ist die Klima-Aktivistin Greta Thunberg, auch die Sängerin Susan Boyle und die Schauspielerin Daryl Hannah haben sich geoutet. Isabel Cerda bekam ihre Diagnose 2012. „Ich habe mich auf eigenen Wunsch testen lassen an der Uniklinik in Tübingen. Ich habe tonnenweise Fragebögen ausgefüllt“, sagt sie. Das Ergebnis: einerseits ein Schlag in die Magengrube. Asperger-Autismus ist nicht heilbar. Andererseits auch eine Erleichterung, wie sie sagt, da das Kind endlich einen Namen hatte, dass es eine Erklärung gab. Von ihrer Schulzeit berichtet die junge Frau aus Lenningen ungern.

Als Mädchen, das eben etwas anders war, sei es für sie die Hölle gewesen. Jahrelang sei sie Mobbing und körperlichen Attacken ausgesetzt gewesen. „Ich war die Kleinste und die Jüngste, ich war das perfekte Opfer. Das hat viel kaputt gemacht“, sagt Isabel Cerda. Freunde habe sie keine gehabt. „Ich war immer allein. Ich habe mich so oft wie möglich in der Toilette eingeschlossen.“ Den Realschulabschluss hat sie dennoch gemacht, jedoch danach keine Ausbildung. Sie ist nicht arbeitsfähig, wie sie sagt. „Ich würde gern was machen, aber ich weiß nicht, was ich dauerhaft leisten kann“, sagt sie. Einen Halbtagsjob würde sie gern probieren, als Schreibkraft oder Fotografin. Aktuell arbeitet Isabel Cerda ihre schwierige Kindheit, eine längere Phase der Obdachlosigkeit, in die sie nach einer Eigenbedarfskündigung gerutscht war, und die daraus resultierende posttraumatische Belastungsstörung in einer Esslinger Tagesklinik auf. Der Verlust der Wohnung habe vieles wieder aufgewühlt. „Man wird als obdachloser, arbeitsunfähiger Mensch angefeindet und sofort abgestempelt“, sagt sie. Doch Isabel Cerda will nicht mehr am Rand stehen. Im Gegenteil: Sie will Öffentlichkeit schaffen. Im Frühjahr hat sie ihr Projekt „Die Gesellschaft sind wir alle“ gestartet. Regelmäßig fotografiert Isabel Cerda Menschen, die durch eine Krankheit oder ihre sexuelle Orientierung ausgegrenzt werden, und veröffentlicht die Bilder bei Facebook und auf ihrer Homepage www.crazypictures.info.

„Ich will zum Nachdenken anregen“, sagt sie. Isabel Cerda hat Ziele. Eines ist Esslingen. „Ich will unbedingt wieder in die Stadt. In der Stadt ist Platz für jede Besonderheit.“ Außerdem möchte sie im Zentrum für Autismus-Kompetenz in Stuttgart vorstellig werden und sich nach einer begleiteten Ausbildung erkundigen. Sie hat sich einer Gruppe von Rollenspielern und einem Mittelalterverein angeschlossen, Freunde gefunden. Einer hat Isabel Cerda als moralische Stütze zum Interview begleitet. Sie lächelt. „Ich bin da in so einem Zusammenhang drin. Das ist etwas Schönes.“