Unsterbliche Liebe: Elsa und ihr dementer Ehemann Ewald haben sich von Claudia Thoelen fotografieren lassen. Foto: Thoelen - Thoelen

In Deutschland leben 1,6 Millionen Demenzkranke. Da stellt sich für Angehörige die Frage: zu Hause pflegen oder im Heim? Eine Entscheidungshilfe gibt das Samariterstift Ostfildern.

Ostfildern - Die Brille liegt im Kühlschrank, beim Suppeessen ersetzt die Gabel den Löffel, und der Blumentopf wird zum Pissoir umfunktioniert. Demenz, lateinisch für Verlust des Verstandes, breitet sich aus in Deutschland. Derzeit leben 1,6 Millionen Erkrankte in der Bundesrepublik. Glaubt man den Prognosen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, werden es bis 2050 bereits 3 Millionen sein. Immer stellt sich für Angehörige dabei die Frage: zu Hause pflegen oder im Heim? Eine Entscheidungshilfe gab jüngst die Stiftung „Zeit für Menschen“. Gemeinsam mit der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg und der Tagespflege Ostfildern lud sie ins Samariterstift Ostfildern ein zu einer Diskussion über die verschiedenen Pflegeangebote.

Den Anfang machte Christine Fischer mit einem Vortrag über die Krankheit. Die Altenpflegerin erklärte, dass bei Demenz Gehirnzellen absterben und ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen. Denken, Urteilen, Sprechen: All das schwindet allmählich. Demente können sich in Zeit und Raum nicht mehr orientieren, erkennen ihre Familie nicht und vergessen sogar, wer sie selbst sind. Fischer berichtete von einer dementen Frau, die beim Anblick ihres Spiegelbilds entsetzt aufgeschrieen hatte. „Demente leben in ihrer eigenen Welt“, erklärte Fischer. „Die kann man nicht mehr umdrehen, sondern muss sie einfach machen lassen.“

So wie die alte Frau, die ihre Puppe wie ein Baby wiegt. Auch wenn der Verstand sich verabschiedet: Die Gefühle leben weiter. Liebe, Fürsorge und Geborgenheit, aber auch Angst, Trauer und Wut, wenn der Demente in seltenen Momenten seine Krankheit bewusst wahrnimmt. Mit solchen Verstandesblitzen ist es nach einer kurzen Übergangsphase aber vorbei. Dann können die Kranken ihren Alltag nicht mehr selbständig bewältigen. Zwei Drittel von ihnen werden zunächst zu Hause gepflegt. Meistens springen die Ehefrauen und Töchter ein. Aus Pflichtgefühl, weil sie es versprochen haben oder weil das Heim zu teuer ist.

Andrea Schmandt ist eine dieser Töchter. Ihre dementen Eltern betreut sie am Wochenende zu Hause, zweimal wöchentlich werden sie in der Tagespflege versorgt, und an den übrigen Tagen stattet der ambulante Pflegedienst Hausbesuche ab. Damit sie sich um ihre Eltern kümmern kann, hat Schmandt ihre Arbeitszeit verkürzt. Der Mutter passt das nicht. „Ich bring mich um“, drohte sie. „Dann falle ich niemandem mehr zur Last.“ Schmandt steckt das scheinbar locker weg. „Gut!“, entgegnet sie nur. „Wenn Du weißt, wie das geht.“ Offenbar hat sie sich eine gewisse Robustheit zugelegt, um an der Situation nicht zu zerbrechen.

Seit einem Oberschenkelhalsbruch hat sich der Geisteszustand von Schmandts Mutter verschlechtert. Auch bei Roswitha Hartmanns Mutter gingen mehrere leichte Stürze einem Oberschenkelhalsbruch voraus. Es scheint, dass die Narkose bei der darauffolgenden Operation das Gehirn stark angegriffen hat. Seitdem lebt Hartmanns Mutter im Samariterstift Ostfildern. Viermal pro Woche bekommt sie dort Besuch von ihren beiden Töchtern und der Enkelin. „Unser Verhältnis ist sehr innig“, sagte Hartmann bei der Diskussion in Ostfildern. „Aber das war es schon immer.“ Da nahm sie es mit Humor, als ihre Mutter sie beim Besuch wie ein pubertierendes Mädchen vorwurfsvoll anraunzte: „Wo warst du die ganze Nacht? Erst jetzt hast du dich heimlich reingeschlichen. Ich hab’s genau gehört.“ Hartmann schmunzelte. Sie hat wohl eine gewisse Gelassenheit und Nachsicht im Umgang mit ihrer Mutter entwickelt.

Zu einer entspannten Beziehung trägt laut Barbara Mächtle-Braun, Leiterin der Tagespflege Ostfildern, auch die Heimpflege bei. Denn sie entlaste die Angehörigen und das geschulte Personal könne die Patienten fachkundig versorgen. Darum ziehen zwei Drittel aller Dementen bei fortschreitender Krankheit ins Pflegeheim, ergänzte Referentin Fischer. Die Mehrheit ihrer Zuhörer war an diesem Abend weiblich: pflegende Ehefrauen und Töchter, Fachpersonal und Heimbewohner. Einige von ihnen wollten wissen, ob Demenz erblich ist. Fischer bestritt das; Gäste widersprachen. Risikofaktor Nummer eins sei Fischer zufolge ein hohes Alter: Von den 65- bis 69-Jährigen seien nur 1,6 Prozent betroffen, von den über 90-Jährigen dagegen 40,95 Prozent.

Auch Hartmanns Mutter ist 90 Jahre alt. Gemeinsam mit 81 weiteren Bewohnern lebt sie in einer der gemischten Hausgemeinschaften des Samariterstifts. „Das Heim ist wie eine Familie. Meine Mutter fühlt sich hier sehr wohl“, zeigte sich Hartmann zufrieden – und fügte augenzwinkernd hinzu: „Sie genießt es, bedient zu werden, nachdem sie ihr Leben lang für Eltern, Kinder und Enkel gesorgt hat.“