...gibt es mittlerweile die Gedenkstätte Deutsche Teilung. Der Ort an der heutigen Landesgrenze zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen... Foto: dpa - dpa

Unser #gEZnoch-Redakteur hat mit seiner Mom über Lügen im Zusammenhang mit der Ausreise der Familie aus der DDR gesprochen.

Von Fabian Schmidt

Esslingen/Neu-Ulm - Die Erinnerung hat mich getrogen. Im kindlichen Kopf schwirrten lange Zeit Bilder vom 20. Juli 1988 umher, die nicht der Wahrheit entsprechen. Erinnerungsfetzen blitzten auf, die mich und meinen Bruder im Zug an der innerdeutschen Grenze in Marienborn westlich von unserem bisherigen Heimatort Magdeburg zeigten, am Tag unserer Ausreise aus der DDR. Drei Jahre mussten wir auf diesen Tag warten, nachdem die Eltern einen Antrag gestellt hatten. Und nun gibt eine DDR-Grenzerin auf dem Bahnsteig noch einmal alles, um die ohnehin schon nervenaufreibende Situation noch belastender zu machen, um die Ausreise aus diesem Unrechtsstaat mit Nachdruck wiederum als Unrecht abzutun. Die Szene entspricht zwar der Wahrheit, doch sie spielte sich im Zug ab, anders als in meinem Gedächtnis. Alle außer meinen Eltern mussten das Abteil verlassen, wir Kinder standen auf dem Gang – und dann flossen viele Tränen.

Seither ist der 20. Juli ein Schmidtscher Feiertag. Früher wurde dieser am gleichen Ort begangen, nun ist die Familie verstreut in der Bundesrepublik, und die gegenseitigen Gratulationen trudeln mittlerweile oft per whatsapp auf den Smartphones ein. Da passt es doch, für #gEZnoch ein Interview über diesen Nachrichtendienst zu führen – mit meiner Mom, der Triebfeder der Ausreise, die heute mit meinem Dad in Neu-Ulm wohnt:

    Mo. 6. März, 13:41
  • Hey Mom. Wir haben doch bei der Eßlinger Zeitung dieses neue Projekt #gEZnoch. Da gehts am Anfang um das Thema Lügen. Da ist mir eingefallen, dass ich Dich doch mal über die Ausreise und die DDR befragen könnte. Da passt das mit den Lügen ja auch ganz gut.

  • 13:42
  • Ok, könntest du versuchen 😃

  • 13:43
  • 1988 war unsere Ausreise. Drei Jahre habt ihr auf den Genehmigung des Antrags gewartet, gell?

  • 13:44
  • Ja !!

  • 13:47
  • Als wir dann mit dem Zug ausgereist sind, hattet ihr doch im Schuh vom Bruderherz 50 Westmark versteckt. Wenn man so will, seid ihr also nicht ganz ehrlich gewesen. Welche Gefühle kommen da in Dir hoch, wenn Du daran zurück denkst?

  • 13:59
  • Damals durften wir nichts an Wertgegenständen u Geld mitnehmen (es wurde je nach Wohnbezirk unterschiedlich gehandhabt !!)...da hatten wir einfach Angst euch nicht mal was zu trinken kaufen zu können..keine Ahnung wir hatten einfach Angst ohne Geld dazustehen
    ...zum Glück hat es keiner gefunden!!

  • 14:01
  • Das war genauso mutig und gut von euch wie die gesamzte Ausreisegeschichte.

  • 14:02
  • ..weiß nicht, ob Mut das richtige Wort ist...

  • 14:03
  • Sondern?

  • 14:04
  • vielleicht Wille nach Freiheit..

  • 14:06
  • ...aber ja, sicher wird man dadurch mutig ‼

  • 14:06
  • In meiner Erinnerung hab ich an der Grenze irgendwann angefangen zu heulen.

  • 14:07
  • Wie schwierig war es da, dass ihr den DDR-Grenzern nicht eure ganz ehrliche Meinung ins Gesicht geschleudert habt?

  • 14:10
  • In dem Moment gab es gar keinen Gedanken daran...da hast du nur Angst u Panik das ja alles gut geht u du nicht aus dem Zug mußt!

  • 14:13
  • ...schlimm genug das ihr kleinen Kinder aus dem Abteil mußtet u diese " Kontrolleurinnen " auch noch die Vorhänge zugezogen haben‼‼

  • 14:15
  • Ich hab da keine genauere Erinnerung mehr dran. Leider. Oder vielleicht auch zum Glück. Aber wenn ich ab und an durch eure Erzählungen darüber nachdenk, dann bekomm ich einen richtigen Hass. Das muss für euch noch viel schlimmer sein.

  • 14:17
  • ..deshalb kann man nicht immer drüber sprechen 🙄
    es ging aber vielen noch viel schlimmer ‼‼

  • 14:19
  • Ihr habt auch damals nicht viel drüber sprechen können, kann ich mir vorstellen. Wie ehrlich konnte man denn mit dem Thema Ausreise in der DDR umgehen? Bei Fremden und bei Freunden.

  • 14:21
  • Zu Fremden kein Wort, unter Freunden gab es ja fast nur dieses Thema.

  • 14:22
  • Aber Oma und Opa habt ihr doch nix gesagt, als es geheißen hat: Jetzt gehts los. Diese Info kam ja wohl auch spontan.

  • 14:23
  • Also die Info an euch meine ich.

  • 14:28
  • Genau, das haben wir einen Tag vorher erfahren... u dann hat man einen fast nicht zu bewältigenden Laufzettel für alle möglichen Abmeldungen bekommen...Streß pur, denn es hieß ja, wenn man nicht überall abgemeldet ist u bestimmte Unterschriften nicht hat, kommt man nicht raus...
    die Stasi hat keine Schikanen ausgelassen👊👊👊

  • 14:30
  • Umso schlimmer, dass immer noch manche nicht von Unrechtsstaat sprechen wollen.

  • 14:31
  • ...wo wir doch gerade bei dem Thema Lügen. sind...

  • 14:33
  • Wie oft musstet ihr eigentlich gegenüber diesem Staat lügen, also eure wirkliche, wahre Meinung verbergen?

  • 14:33
  • ..bei der Arbeit, bei den regelmäßigen Stasivorladungen ...eigentlich immer in der Öffentlichkeit

  • 14:37
  • Gelogen hat auch ein guter Freund von Paps. Er war ein IM, ein Stasi-Spitzel und hat Infos von euch/uns an die Staatssicherheit geliefert. Ihr seid aber immer noch gut mit ihm befreundet. Wie konntet ihr ihm diese Lüge verzeihen?

  • 14:46
  • ..mußt du eigentlich Paps fragen
    Zu der Zeit hatten wir sehr wenig Kontakt zueinander, also konnte er auch gar nichts schreiben..das wußten wir. Nach Jahren haben wir uns hier durch andere wieder getroffen u es war inzwischen viel passiert u Zeit vergangen...wir sehen uns einmal im Jahr u das macht immer viel Spaß ..so wie früher!!
    Konsequent ist das sicher nicht, aber das ist es uns wert!!

  • 14:47
  • Ich denke immer mal wieder auch, dass es vielleicht sogae gut war, dass ein Freund der Spitzel war. Weil er ja auch "gute Unwahrheiten" an die Stasi liefern hat können. Also eure Akten hat sauberer halten können, als das ein anderer Spitzel vielleicht gemacht hätte. Sind solche Gedanken Mumpitz?

  • 14:52
  • Ja ‼ großer...wie sagst du 😳 ..Mumpitz‼

  • 14:52
  • Oke. Sorry. 🙈

  • 14:52
  • Mich würd aber noch was anderes interessieren.

  • 14:53
  • ..du kannst es ja nicht wissen 😀

  • 14:54
  • Du bist immer noch sehr emotional beim Thema Ausreise und DDR. Findest Du es eigentlich manchmal schade, dass wir Kids gar nicht wertschätzen (können), wie schwerwiegend so eine Ausreise ist?

  • 14:56
  • Nein, bin sehr froh das WIR es gemacht haben..für euch u für uns 👨 ‍ 👩 ‍ 👦 ‍ 👦

  • 14:57
  • Ja, und wir können dankbar sein.
    ab dafür. 😋

  • 14:57
  • Eine Sache will ich aber noch wissen

  • 14:58
  • Hättet ihr die Ausreise nicht beantragt, wenn ihr gewusst hättet, dass die Mauer im Jahr nach unserer Ausreise fällt?

  • 14:59
  • Doch, auf jeden Fall ‼ Jeder Tag eher war es wert ‼

  • 15:00
  • Danke Dir. Ist bestimmt nicht leicht, darüber so konkret nachzudenken.

  • 15:00
  • Ganz zum Abschluss noch ne Frage auf unser Projekt bezogen.

  • 15:00
  • Ok 😳

  • 15:01
  • Keine Angst.

  • 15:01
  • 😋

  • 15:02
  • Was sind Deine #gEZnoch-Momente in Bezug auf die DDR, also wann denkst Du Dir: Gehts noch, was labert der oder die denn für einen Scheiß heut über die DDR.

  • 15:13
  • Wenn jemand vergessen hat, wie es wirklich war u die DDR zurück will ‼‼‼
    Wir hatten auch eine schöne Kindheit u Jugend dort u es war ganz sicher nicht alles schlecht!!, aber als Erwachsene hatten wir andere Vorstellungen vom Leben.
    Freiheit u Selbstbestimmung in jeder Beziehung ‼
    (..u nicht die Bananen, wie immer so dümmlich behauptet wird!!)
    ...das ist jetzt in sehr wenigen Worten gesagt u nur meine Ansicht 🙋

  • 15:15
  • Vielen vielen Dank

  • 15:16
  • Das ist jetzt das offizielle Ende 😎

Ob mir das mit dem Heulen selbst bekannt war, oder die Erzählungen meiner Eltern zu einer eigenen Erinnerung geworden sind, weiß ich nicht mehr. Ich weiß auch nicht mehr, ob ich im Auffanglager in Gießen, im gelobten Land, dem Westteil Deutschlands, wirklich Freude verspürte ob des Würfelzuckers und der Stockbetten. Vielleicht macht mir die Erinnerung auch hier etwas vor.

Wenn dem so ist, möchte ich diese Lüge aber aufrechterhalten. Sie ist schließlich meine Erinnerung an diese emotional schlimmsten Stunden unserer Familie. Damals am 20. Juli 1988, als die Eßlinger Zeitung auf ihrer Titelseite mit rot unterlegt schrieb „Neckarhaldenhang rutscht ab – Mettinger Straße voll gesperrt“ und weiter unten vermeldete: „Zwei Fluchtversuche in Berlin gescheitert . . . DDR-Grenzposten nahmen am Mittag am Checkpoint Charlie einen Mann fest . . . Am Grenzzkontrollpunkt Drewitz nahmen DDR-Grenzsoldaten am Vormittag zwei Insassen eines Personenwagens mit DDR-Kennzeichen fest.“ Auch diese Leute hofften auf einen Neuanfang – und wurden gehindert.

Wir Vier haben den Neustart auf dem Weg der Ausreise geschafft. Ziehe über die Grenze und erhalte ein neues Paar Klettschuhe. Das galt für uns zwei Kinder und war der erste Akt in Freiheit sozusagen. Davor stand für die Eltern aber ein langer Weg, mit Hürden, Problemen und Sorgen, die natürlich auch deren Eltern umtrieben haben.

Die Großeltern mütterlicherseits leben nun auch schon seit vielen Jahren im Westen, am Bodensee. Auf sie bezieht sich die Erzählung. Trotz der großen Zeitspanne umtreibt die Ausreise sie ebenfalls emotional noch sehr. Auch hier fließen fast drei Jahrzehnte danach noch Tränen. Als Enkel, der damals fünf war, ist das heute schwer nachzuvollziehen. Genauso wie der Fakt, dass ein Intimus der Eltern der IM – ein inoffizieller Mitarbeiter der Stasi – war, der dem Kontrollapparat Infos über die Familie Schmidt lieferte.

Im Zusammenhang mit der Deutschen Demokratischen Republik gibt es viele solcher #gEZnoch-Momente. Meine Mom schüttelt beispielsweise immer auch den Kopf, wenn jemand zurück will in ein Land ohne „Freiheit und Selbstbestimmung“ – auch wenn in ihrer eigenen Kindheit und Jugend „sicher nicht alles schlecht“ war, wie sie sagt. Doch als Erwachsener sei es nicht mehr auszuhalten gewesen.

Fabian Schmidt. . . würde gerne die Grenz-Kontrolleure von damals nach ihrer Motivation fragen – auch wenn das Interview gewiss nicht nett wäre.