Gunter Joas auf dem Dach-Spielplatz der KJPP. Foto: Julia Theermann - Julia Theermann

Der Rückzug aus geliebten Hobbys kann ein Hinweis auf eine Depression sein: Auch Kinder kämpfen mit psychischen Problemen. Das wird oft zu spät erkannt.

Esslingen Auch Kinder kämpfen mit psychischen Problemen – wichtig ist laut Gunter Joas, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Klinikums Esslingen, dass sie früh behandelt werden.

Krankheiten

Jahrelang war die Tochter im Tanzverein aktiv, doch plötzlich will sie nichts mehr damit zu tun haben. Das kann bei Kindern ganz normal sein, sagt Gunter Joas, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (KJPP) des Klinikums Esslingen. „Es kann sein, dass das Kind dem Hobby einfach entwachsen ist“, so Joas. Aber Eltern sollten in solchen Fällen dennoch hellhörig werden. Denn der Rückzug aus geliebten Hobbys kann ein Hinweis auf eine Depression sein. Die äußert sich bei Kindern anders als bei Erwachsenen und wird darum oft erst spät erkannt. „Wichtig ist die banal wirkende Frage nach dem Schlaf“, sagt er. Schlafen Kinder schlecht, liegen sie nachts grübelnd wach, ziehen sie sich von Freunden oder Familienaktivitäten zurück, sollten die Alarmglocken klingeln: „Gerade bei Jungs kommt bei einer Depression auch oft noch eine aggressive Komponente hinzu.“

Gunter Joas und seine Kollegen haben in der KJPP mit vielen verschiedenen Krankheitsbildern zu tun. „Wir behandeln eigentlich alles, von A wie Angst oder Anorexie bis Z wie Zwang“, so der Chefarzt. 14 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die in der KJPP behandelt werden, haben eine Form von Angststörung. Dazu gehören zum Beispiel soziale Phobien. „Das ist eine Störung, die gut in die heutige Zeit passt“, erklärt Joas. „In der Schule werden Kinder auf die Performance-Welt vorbereitet. Es geht immer um Präsentation, und damit können einige Kinder nicht umgehen.“ Wird die Angst nicht behandelt, kann sie sich ausweiten. „Irgendwann können die Patienten zum Beispiel nicht mehr S-Bahn fahren oder das Haus verlassen.“ Vier bis fünf Prozent der Betroffenen haben eine Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS). Besonders häufig kommen derzeit Schulschwänzer in die Klinik, die teils schon seit Monaten nicht mehr in der Schule waren, so Joas. Die Klinik behandelt auch Kinder und Jugendliche mit Zwangsstörungen, Traumata, Persönlichkeitsstörungen und Schizophrenie. Auch Essstörungen und Depressionen seien nach wie vor häufig. Darüber hinaus gibt es auch Mischformen. „Angst geht oft mit Zwang und Depression einher“, erklärt der Mediziner. „Ein Kind ist beispielsweise ängstlich und entwickelt einen Zwang, um die Angst im Zaum zu halten. Irgendwann kommt dann oft eine Depression dazu.“ Darum sei es wichtig, bei der Behandlung von Kindern breit zu denken. „Man kann nicht nur ein Symptom wegtherapieren, man muss herausfinden, was die Wurzel des Problems ist. In unserem Beispiel ist das die Angst.“

Nicht genug Betten

Im Prinzip, davon ist der Kinder- und Jugendpsychiater und -psychotherapeut überzeugt, haben es Eltern im Gefühl, wenn mit ihren Kindern etwas nicht stimmt. „Wir hören oft: Ja, das ist uns auch schon aufgefallen“, sagt Joas. Aber zu wenige Eltern würden daraus folgern, dass ein Besuch beim Kinderarzt oder einer Beratungsstelle sinnvoll wäre. „Nicht jedes Kind, das mit psychischen Auffälligkeiten zum Arzt geht, wird sofort stationär aufgenommen“, beruhigt Joas. Es gehe nicht darum, den Kindern das Label einer Krankheit aufzudrücken. Vielmehr soll ein niederschwelliger Zugang zu einer Behandlung geschaffen werden. Das ist bei Kindern deshalb wichtig, weil sich psychische Probleme sehr schnell verfestigen können – also chronisch werden. Und dann ist die Behandlung wesentlich schwieriger: „Darum ist es wichtig, dass früh die Weichen richtig gestellt werden.“

48 Prozent der Patienten, die in der KJPP behandelt werden, kommen aus der Notaufnahme auf die Station – oft sind die Krankheiten dann schon chronisch: „Das echte Armutszeugnis ist, dass von diesen behandlungsbedürftigen Kindern die Hälfte keine Behandlung bekommt.“ Das liege nicht nur daran, dass die Eltern nicht mit ihren Kindern zum Arzt gehen, so Joas. Ein größeres Problem sei der Mangel an Klinikplätzen. „Stellen Sie sich mal vor, wenn wir diese Situation bei Herzinfarkten hätten, da ginge aber ein Aufschrei durch die Bevölkerung“, so Joas. Kinder hätten sowieso keine große Lobby, so der Psychiater: „Und psychisch kranke Kinder erst recht nicht.“

Häufigkeit

Psychische Auffälligkeiten bei Kindern sind nicht selten. Die Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) des Robert-Koch-Institutes (RKI) geht davon aus, dass sich bei 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland – bei Jungen häufiger als bei Mädchen – Anhaltspunkte für psychische Probleme finden lassen. Sechs Prozent sind dringend behandlungsbedürftig. Aggressives oder hyperaktives Verhalten fällt dabei leichter ins Auge als Rückzug. Kinder und Jugendliche mit niedrigem Sozialstatus, Migrationshintergrund, nur einem erziehenden Elternteil oder arbeitsloser Mutter sind vermehrt von psychischen Auffälligkeiten betroffen, heißt es in der Studie. Es gibt auch einen genetischen Aspekt. Zum Beispiel bei Depressionen sind Kinder häufiger betroffen, wenn mindestens ein Elternteil einmal an einer depressiven Episode litt. Darüber hinaus besteht bei Kindern von psychisch, chronisch oder schwer erkrankten Eltern ein besonders hohes Risiko, psychische Störungen zu entwickeln. Daher empfiehlt die Studie, dass die behandelnden Ärzte immer auch das Wohl der Kinder ihrer Patienten im Auge haben. 50 Prozent aller psychischen Störungen zeigen sich laut Gunter Joas, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (KJPP) des Klinikums Esslingen, bis zum 14. Lebensjahr, 75 Prozent bis zum 25. Lebensjahr.

Hilfe in Esslingen

Die KJPP Esslingen ist nach Altersgruppen aufgeteilt. Neben der Tagesklinik (elf Plätze) gibt es eine Station für Sechs- bis Zwölfjährige (acht Betten), eine für Zwölf- bis 15-Jährige (neun Plätze) und eine für 15- bis 18-Jährige (neun Plätze). Eigentlich bräuchte die Klinik aber zwölf weitere Betten, findet Joas. „Wir haben den Versorgungsauftrag für den gesamten Landkreis Esslingen mit seinen 530 000 Einwohnern“, sagt Chefarzt Joas. „Wir machen unsere Arbeit echt gerne, aber wir arbeiten immer am Limit.“ Seit 2015 bietet die KJPP stationäre Behandlungen an: „Innerhalb einer Woche waren alle Betten zu 100 Prozent belegt. Und seitdem hatten wir nie eine Auslastung von weniger als 100 Prozent.“ Um annähernd alle Kinder und Jugendlichen aufnehmen zu können, die behandelt werden müssen, seien bestimmt zwölf zusätzliche Betten nötig. Seit Neuestem machen die Psychiater und Therapeuten der KJPP auch Hausbesuche. In der stationsäquivalenten Behandlung (StÄB) können Patienten psychiatrisch behandelt werden, ohne dass ein Bett in der Psychiatrie belegt werden muss. Auf der Wunschliste des Arztes stehen noch weitere Neuerungen. So wünscht er sich eine Eltern-Kind-Station. „Das wäre extrem wichtig, um zum Beispiel die Behandlung der depressiven Mutter und des Kindes mit Bindungsstörungen zu synchronisieren“, erklärt er. Oftmals seien nämlich auch die Eltern der jungen Patienten psychisch krank oder machten eine depressive Phase durch.