Für immer und ewig? Man sollte die Liebe nicht vor dem Lebensabend loben. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Liebe ist ein Ausnahmezustand, der alles fordert und gerade deshalb seine eigene Überforderung zeitigt.Historisch hat die Institution Ehe so lange ihre Funktion erfüllt, wie Liebe von ihr ferngehalten wurde.

Von Martin Mezger

Esslingen - Hausbesuch bei einem goldenen Hochzeitspaar. Der Gatte öffnet. Die Gratulationsdame von der Kirchengemeinde blickt durch den Türspalt. „Wo ist denn ihre liebe Frau?“ „Do drenna. Die hätt‘ e scho vor fuffzig Johr totschlaga solla.“ Die Ehrenamtlerin ist entsetzt. Ein trauriges Eheschicksal - oder nur auf dem falschen Fuß erwischt, an diesem von Harmoniezwängen überforderten Jubeltag?

Selbst wenn letzteres der Fall wäre: Er wäre symptomatisch. Denn die Überforderung gilt nicht nur einem prominenten Datum, sie gilt der Liebe selbst im Zeitalter ihrer Befreiung, die sie sich in langen Jahrhunderten der Unterdrückung erkämpfen musste: gegen familiäre, dynastische oder wirtschaftliche Zwänge, welche einst die Partnerwahl regelten - und Tragödien schrieben. Das Motiv der verbotenen Liebe wie in Shakespeares „Romeo und Julia“ birgt allemal das Potenzial einer romantischen Rebellion. Aber nur durch den tödlichen Ausgang entgeht es einer Pointe, welche die freidenkerische Madeleine de Scudery bereits im 17. Jahrhundert formulierte: „Liebe kann jederzeit den Tod überdauern, doch selten die Heirat.“ Heute, wo einer unbotmäßigen Liebe zumindest in der abendländischen Zivilisation keine Todesgefahr mehr blüht, wo sich die sogenannte Liebesheirat vom möglichst zu unterdrückenden Sonderfall (wie noch im 19. Jahrhundert der „Buddenbrooks“ von Thomas Mann) zum Normalfall emanzipierte, droht der Liebe jenes andere, trostlose und paradoxe Geschick: das Absterben durch jene Dauer, die sie sich selbst gewünscht hatte. Das „Ende der Liebe“, so der Schriftsteller Sven Hillenkamp, resultiert aus der unbegrenzten Freiheit, die sie sich errungen hat. Genau diese Grenzenlosigkeit entspricht auf fatale Weise dem Wesen der Liebe selbst, diesem schwer zu definierenden, aber allmächtigen Ausnahmezustand der Seele, der alles fordert und gerade deshalb seine eigene Überforderung zeitigt - mit der Folge einer nicht minder grenzenlosen Enttäuschung.

Was ist Liebe, dieses „unordentliche Gefühl“ (Richard David Precht)? Zunächst eine doppelte Verwechslung: mit dem Verliebtsein und mit der Sexualität. Verliebtsein ist ein biochemisch und neurophysiologisch einigermaßen präzis zu beschreibender Vorgang, der ähnliche oder gleiche Gehirnprozesse auslöst wie manche Drogen oder psychische Erkrankungen. Nebst den mit extremen Gemütslagen - Euphorie hier, Verzweiflung da - verbundenen Risiken und Nebenwirkungen (etwa „Werther“-Selbstmorden) hat Verliebtsein nachweisbare Vorteile: Es setzt ungeahnte Energien frei, hält auch im fortgeschrittenen Alter körperlich und geistig fit, regt Phantasie und Kreativität an. Es hat nur einen, allerdings gravierenden Nachteil: Die Erfüllung seines Begehrens überlebt es nur kurz. Psychologen geben dem Verliebtsein sechs Wochen bis drei Monate, nachdem sich die Paare liiert haben. Der erste Streit, der zurückkehrende Wunsch nach persönlicher Autonomie - mal wieder „was mit den Kumpels machen“ oder „für sich selbst Zeit haben“, während einem vorher die Zweisamkeit als Paradies auf Erden erschien: Das sind die Totenglocken des Verliebtseins, die weiter läuten werden, wenn dieses längst verblichen ist.

Sexualität wiederum hat mit Liebe ursächlich gar nichts zu tun. Gerade im Stadium akuter Verliebtheit spielt sie keineswegs immer die erste Emotionsgeige, häufiger scheint eine Art „heilige“ Scheu vor dem geliebten Menschen den spontanen sexuellen Appetit zu zügeln. Studien haben denn auch ergeben, dass junge Menschen ihre ersten sexuellen Erfahrungen oftmals in Situationen machen, die mit Verliebtheit wenig oder nichts zu tun haben. Und kulturgeschichtlich ist es beileibe nicht erst eine Erfahrung des Porno-Zeitalters, dass Sex von Liebe ablösbar und Liebe für Sex keine zwingende Voraussetzung ist. Zumal Sexualität stets in Formen hinüberspielen kann, die sich aggressiven statt liebevollen Triebstrukturen verdanken. Dass Sexualität traditionell mit Liebespaarbeziehungen vergesellschaftet wird, dürfte mit ihrer Verwandlung vom Trieb- ins Zeichenhafte zu erklären sein. Vom Selbstzweck wird sie zum Bedeutungsträger exklusiver Zweisamkeit. Und dann ergeht es ihr kaum gnädiger als dem Verliebtsein: In der Sexualforschung gilt es als gesicherter Befund, dass Paare nach durchschnittlich drei Jahren das sexuelle Interesse aneinander verlieren - Frauen tendenziell eher früher. Allan und Barbara Pease zitieren in ihrem Buch „Warum Männer immer Sex wollen und Frauen von der Liebe träumen“ eine Untersuchung, derzufolge bereits zwölf bis 18 Monate nach Beginn einer Liebesbeziehung die Hormonspiegel der Probanden auf normale Werte zurückgegangen sind. Was danach im Bett geschieht, kann laut dem Psychologen Dirk Revenstorf Züge einer „Masturbation an einer lebenden Attrappe“ annehmen - bis die sexuelle Aktivität innerhalb der Beziehung ganz eingestellt wird. Natürlich ist das kein strikter Determinismus. Eine New Yorker Studie von 2008 hat aber festgestellt, dass nur bei zehn Prozent der untersuchten Langzeit-Paare der Partner noch einen biochemisch messbaren sexuellen Reiz auf den anderen ausübt.

Weder die Sexualität noch das Verliebtsein lösen also das Rätsel namens Liebe, verstanden in jenem idealen Sinn, der wider besseres Wissen auch für postmoderne Gesellschaften verbindlich bleibt - man denke nur an den heutigen Valentinstag oder an den aktuellen Hochzeitsboom, dem offenbar die auf 50 Prozent zumarschierenden Scheidungsraten nichts anhaben können. Fragen wir also noch einmal: Was ist Liebe? Sie ist ein widersprüchliches Ideal, das die Anarchie der Gefühle mit der mathematischen Präzision von Zahl und Zeit verbindet. Die Zahl der Liebe ist die Eins: Nur einer oder eine unter Milliarden von möglichen Liebespartnern soll es sein. Die Zeit der Liebe ist die unbegrenzte Dauer. Beides ist unauslöschbar in der DNA unserer Liebeskultur gespeichert, beides ist in zwei großen antiken Mythen formuliert: Orpheus, der seiner Gattin Eurydike über den Tod hinaus und selbst nach der gescheiterten Rückführung aus der Unterwelt trauernd treu bleibt, verkörpert das monogame Prinzip. Philemon und Baucis, das greise, menschenfreundliche und in unverbrüchlicher Liebe verbundene Paar, dem die Götter die Gunst gewähren, sich nie trennen zu müssen, stehen für die Dauer. Beide Erzählungen weisen der Liebe eine doppelte Perspektive: Melancholie - oder Ehe.

Die melancholische Liebe verzehrt sich in der Unerreichbarkeit des geliebten Menschen, sie rebelliert gegen Tod, fehlende Gegenliebe oder gesellschaftliche Zwänge. Dieser unglücklichen Liebe - für Romantiker die einzig wahre Liebe - huldigen die erhabensten Liebesdichtungen, von Petrarcas Gedichten an die madonnenhafte Laura bis zu Goethes leidendem Werther. Der Preis für solchen Ästhetizismus ist der Verzicht auf lebendige Liebespraxis, in der Lebenswirklichkeit ist die melancholische Liebe nichts anderes als neurotisch.

Die Ehe (oder jede auf Dauer angelegte Bindung) ist dagegen die alltägliche Organisationsform eines „Familienbetriebs“, die bestenfalls Fürsorge für eine „Banalität des Guten“ trifft, wie der Paartherapeut Arnold Retzer provokativ schreibt, für prickelnde Gefühle aber nicht zuständig ist. Mehr noch: Historisch hat die Institution Ehe so lange ihre Funktion erfüllt, wie Liebe von ihr ferngehalten wurde.

Mythische Liebesideale helfen also nicht weiter. Liebe wird überschätzt als Glücksversprechen, das sie in Wirklichkeit nie hält - und das trotzdem niemand missen will. Den Silberstreif an den Beziehungshorizont zeichnet aber kein illusionärer Idealismus, sondern der Realismus einer nie abgeschlossenen Rückversicherung der eigenen Gefühle in der gegenseitigen Sympathie. Diese ist gerade bei Liebespaaren keine Selbstverständlichkeit, sondern ein in den Wechselfällen des Lebens zu erprobendes Experiment - Retzer spricht von einer „kunstvollen Balance der Widersprüchlichkeiten“. Wenn das Experiment gelingt, wird Freundschaft daraus. Freundschaft ist nicht Liebe, aber das einzige Fundament, das Liebe zu stabilisieren vermag.