Anspruchsvolles Ton-Art-Festival: Gesprochene und gesungene Texte, komponierte und improvisierte Musik. Foto: Roberto Bulgrin - Roberto Bulgrin

Eine ungewöhnliche musikalische und dichterische Darbietung erlebten die Besucher der Stunde der Kirchenmusik in St. Dionys. Spiritualität wurde mit großartigen Stimmen kombiniert.

EsslingenDie zentrale Kreuzigungstafel des Hochaltars im Chor ist beleuchtet, die vordere Hälfte des Kirchenschiffs liegt im Dunkeln. Auf einem Steg im Mittelgang ruht wie schlafend eine schwarzgewandete Frau mit nackten Füßen. So leitet sich bereits vor Beginn des Geschehens am Samstagabend die Stunde der Kirchenmusik in St. Dionys ein. Frank Wörner und Christian Pfeiffer haben diese im Rahmen des Ton-Art-Festivals für zeitaktuelle Musik „eyes and ears“ nach allen Regeln der Kunst konzipiert.

Der nie unterbrochene Ablauf von gesprochenen und gesungenen Texten, von komponierter und improvisierter Musik, eine tänzerische Soloperformance und schlichte, aber immer bedeutungsvolle Lichtregie, schlägt einen großen Bogen über ein Thema, das nicht ernster und existenzieller sein könnte: die grundlegenden, letztlich spirituellen Reflexionen über unser aller Dasein zwischen Geburt und Tod, zwischen Nacht und Tag, zwischen Schuld und Erlösung. Klugerweise schürfen diese in verschiedenen historischen Zeiten und erreichen gerade dadurch besonderen Tiefgang. Drei künstlerisch großartige Stimmen kommen gedanklich und dichterisch zu Wort. Die umfangreichen, mystischen auch todessehnsüchtigen „Hymnen an die Nacht“ des bereits im Alter von 29 Jahren verstorbenen Dichters der Frühromantik Novalis werden von Angelika Meyer wunderbar einfühlsam und verständlich mehrmals ins Programm eingearbeitet.

Ein geradezu lichtdurchflutetes Sonett „E chi mi impenna“ des 1600 in Rom auf dem Scheiterhaufen hingerichteten Humanisten, Astronomen und Dichters Giordano Bruno kam als Solitär in der Mitte des szenischen Abends ganz besonders zur Geltung. Es erklang sowohl italienisch wie in der deutschen Übersetzung gesprochen als auch dann enorm gesteigert in einer speziell für dieses Konzert von Christian Pfeiffer eindrucksvoll komponierten Fassung für Sopran, Percussion und Elektronik. Julia Hinger sang mit jugendlich schlanker, glockenklarer und kantilener Stimme diese Uraufführung. Der bedeutendste deutsche Komponist der Frührenaissance Heinrich Schütz schließlich – er erlebte den 30-jährigen Krieg mit seinen unmenschlichen Verwerfungen – war mit zwei kleinen geistlichen Konzerten rahmengebend vertreten. Seine wortausdeutende und trotzdem enorm expressive Tonalität, stellte für die zeitgenössische Musik eine Tiefenfolie dar, die beide Ebenen in ihrer Eigenbedeutung erhöhte. Der Mystiker und Musiker Giacinto Scelsi (1905 -1988) war zentral in fünf Stücken mit der eigenwilligsten und radikalsten Klanglichkeit der Abendstunde vertreten. Frank Wörner interpretierte die etwa zwischen Dadaismus und Archaik angesiedelten fantasiesprachlichen Gesangssolostücke „Wo Ma I“ und „Wo Ma II“ für Bass fulminant ausdrucksstark, während der Schlagzeuger Michael Kiedaisch mit „Ko-Tha I“ und „Ko-Tha II“ die instrumentale Energie des Scelsi-Klanguniversums auf Metall und Fell freisetzte. Der große John Cage war mit seinem berühmten „as slow as possible“ auf der Orgel von Hanna Schüssler in einem Ausschnitt von acht Minuten vertreten. Hier vermittelte sich die Bedeutung des so langsam wie möglich allerdings kaum mehr, vielleicht im Gegensatz zur 1989 stattgefundenen, vergleichsweise ebenfalls kurzen 29-minütigen Uraufführung, da inzwischen die auf 639 Jahre ausgedehnte Version in der Burchardi-Kirche von Halberstadt jede bisher denkbare Dimension von Langsamkeit und Dauer sprengt.

„Ewige Wege“, so die Titulierung im Programmheft, erschlossen sich aber in besonderer Weise den Zuhörern im Zuschauen. Der vorne im Kirchenschiff aufgebaute weiße Kubus des Esslinger Künstlers Matthias Kunisch erleuchtete sich zur strahlenden Lichtinstallation parallel zum Verlauf eines langandauernden Crescendos auf dem Schlagzeugbecken immer mehr, während die oben erwähnte Performerin Olivia Maridjan-Koop aus einem vermutlich hundertjährigen Schlaf, sich streckend und reckend erwachte und schließlich wie von unsichtbaren Schnüren emporgehoben, aufrichtete zu dem ihr bestimmten Erdenweg. Geschminktes Lippenrot, später Weiß und Schwarz, deuten die Lebensstufen des Menschen an. Langsam aber stetig geht sie rückwärts aber aufrecht ihren Weg bis zum erneuten Niedersinken während des Orgelstücks von Cage. Eine zweite Auferstehung, wohl angelehnt an Giacinto Scelsis festen Glauben an die Reinkarnation, bringt die großartige Performance mit einer Art Shivatanz während des großen Schlagzeugstücks „Ko-Tha II“ zum eindrucksvollen Höhepunkt. Auch durch Verbindung schaffende improvisierte elektronische Klangelemente (Christian Pfeiffer), oft kaum unterscheidbar zu den ebenfalls improvisierten feinen, sensiblen Schlagwerkklängen – und Geräuschen, entstand durch die Konzertstunde hindurch bei höchst bedeutungsvollem Inhalt eine wunderschöne, intensiv meditative Atmosphäre, die katarsische Wirkung entfaltete.