Regisseur Uldis Streips erzählt. Quelle: Unbekannt

Von Peter Dietrich

Beim Abend der Erinnerungen und Erzählungen im Gemeindehaus am Blarerplatz sprachen die Letten von „Fragmenten“. Nimmt man diese zusammen, ergibt sich ein Bild der rund 7000 Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg für einige Jahre in Esslingen lebten. Neben dem Musical „Eslingena“ war das einer der Höhepunkte beim Sängerfest.

Wer kam damals nach Esslingen? Es waren vor allem Menschen, die sich vor Stalin fürchten mussten, also die Intelligenz. So kamen sie ihrer Deportation nach Sibirien zuvor. So kamen alleine 150 Lehrer und 48 Richter nach Esslingen. Im Lettischen Gymnasium in Esslingen unterrichteten nicht nur ausgebildete Gymnasiallehrer, sondern auch ehemalige Universitätsdozenten. Zu Beginn des Schuljahres 1947/1948 zählte das Gymnasium 37 Lehrer und 211 Schüler. Es war streng, die Anforderungen hoch. Als 1947 die Auswanderung nach Übersee begann, sollten die guten Schüler des vorletzten Schuljahres zuvor das Gymnasium abschließen. Durch zusätzliche Stunden lernten sie in einem Schuljahr den Stoff von zwei Jahren und bekamen im Juni 1948 ihr Abitur.

Erzbischof unter den Geflüchteten

In der lettischen Kirche ist die Konfirmation erst mit 17 oder 18 Jahren, während des Krieges waren viele Jugendliche nicht konfirmiert worden. So organisierte das Gymnasium eine Konfirmation. Pfarrer gab es unter den Geflüchteten genug, sogar einen Erzbischof.

„Wir hatten keine Schulbücher, deshalb wurde viel diktiert, und wir lernten vieles auswendig.“ So ist es in der Erinnerung „Mein Esslingen“ von Astrida Barbina-Stahnke zu lesen. Sie ist im neuen Buch mit Esslinger Erinnerungen in lettischer Sprache enthalten, das zum Fest erschienen ist. 1949 wanderte sie in die USA aus. „Wenn mir jemand anbieten würde, diese Jahre in Esslingen aus meinem Leben zu streichen, und mir dafür zehn andere Jahre geben wollte, würde ich ihm sagen, nein danke.“

Zu den weiteren Lesungen aus dem Buch gehörte ein Bericht aus der lettischen Musikschule in Esslingen. Sie entstand, weil viele Künstler vom Konservatorium in der Stadt waren und zählte 250 Schüler, auch Erwachsene. Eine weitere Lettin erzählte vom gemeinsamen Schulunterricht von mehreren Jahrgängen und vom Ballettunterricht. Diese Fähigkeiten konnte sie später auch bei Auftritten in Nachtclubs einsetzen.

Die Worte des Regisseurs Uldis Streips wurde vom emeritierten Erzbischof Elmars Ernsts Rozitis ins Deutsche übersetzt. „Ich wuchs ohne Vater auf. Es muss ein großer Reichtum sein, einen Vater zu haben.“ Sein Vater floh nach Deutschland und dann England. Das erste Mal traf Streips seinen Vater, als er selbst schon 60 war. Streips erzählte auch von den improvisierten Theateraufführungen in Esslingen. Als Leinwand für die gemalten Kulissen wurden vernähte Zuckersäcke verwendet, als Grundierung diente Milchpulver, das gegen Zigaretten eingetauscht wurde.

Der Moderator des Abends, Eduards Liniš vom lettischen Radio, kündigte einen Filmausschnitt an: Mit dem Auto und zu Fuß in Esslingen unterwegs, erinnerte sich im Jahr 2014 der Sänger Alberts Legzdiš - er ist einer der Autoren des Musicals „Eslingena“. Während er zuerst mit der Familie in der Pliensauvorstadt und dann am Schillerpark lebte, wohnte die Großmutter in der Becelaere-Kaserne in Esslingen-Hohenkreuz. Hinter einer großen grünen Türe waren dort die Bettlägerigen untergebracht.

Legzdiš interessierte sich für Fußball, andere junge Letten auch. Doch nicht alle konnten zu den Spielen nach Stuttgart fahren. Was tun? Einige Letten fuhren hin, später stellten sie für die anderen Tore nach.

Ein Höhepunkt des Fests war für die kulturbegeisterten Besucher das lettische Musical „Eslingena“. Zwei der drei lettischen Autoren lebten einst im Aufnahmelager für „Displaced Persons“ in Esslingen. Das 2005 geschriebene Musical wurde im lettischen Riga, auf dem Sängerfest im kanadischen Toronto und im australischen Melbourne aufgeführt. Nun erlebte es im ausverkauften Neckar Forum seine Esslinger Premiere. Die 60 Mitwirkenden kamen aus Lettland, Deutschland, Dänemark, Luxemburg, Irland, der Schweiz und Italien. So musste der Regisseur, der gerne 40 Proben gehabt hätte, mit zwölf Proben auskommen. Sie fanden in Freiburg, Bonn und Mettingen statt. Damit die Zuschauer dem Inhalt in lettischer Sprache folgen konnten, gab es Untertitel.