Ehe sich die SPD-Ratsmitglieder zu früher Stunde der Esslinger Kommunalpolitik widmeten, durften sie erst einmal ihre Frühstücksbrezeln schlingen. Foto: Alexander Maier - Alexander Maier

Gewöhnlich tagt die Esslinger SPD-Gemeinderatsfraktion am Abend. Weil ihr jüngstes Mitglied, der Bäckermeister Florian Dieringer, jeden Tag bereits in aller Herrgottsfrühe in der Backstube steht, stellten die sozialdemokratischen Ratsmitglieder ihren Terminkalender auf den Kopf und trafen sich ausnahmsweise schon um vier Uhr früh bei Dieringer zur Fraktionssitzung.

Esslingen Wer sich in der Kommunalpolitik engagiert, ist abends häufig unterwegs: Ausschuss- und Gemeinderatssitzungen, Fraktionsrunden, Expertengespräche und Veranstaltungen fordern vollen Einsatz. Wenn er ins Rathaus geht, hat der Esslinger SPD-Stadtrat Florian Dieringer stets einen besonders langen Arbeitstag in den Knochen. Obwohl er als Bäckermeister schon in aller Herrgottsfrühe in der Backstube steht, hat er im Mai für den Gemeinderat kandidiert und wurde mit starkem Ergebnis gewählt. Seither muss der 32-Jährige Beruf und Engagement unter einen Hut bringen, was gar nicht so einfach ist. Weil seine Fraktionskollegen hautnah erleben wollten, was es heißt, als Nachtarbeiter in die Politik zu gehen, verlegten sie ihre Sitzung nun in Dieringers Backstube. Zu nachtschlafender Zeit um vier Uhr in der Frühe durften sie dort erst einmal Seelen kneten und Laugenbrezeln schlingen, ehe sie beim Arbeitsfrühstück ausgiebig über Kommunalpolitisches diskutierten.

SPD-Ratsherr Wolfgang Drexler hatte die Idee gehabt, den Terminkalender seiner Fraktion ausnahmsweise auf den Kopf zu stellen. Als die Aktion vor Wochen beschlossen wurde, waren alle Feuer und Flamme, doch als am frühen Montagmorgen der Wecker klingelte, dürfte der eine oder die andere dem entgangenen Schlaf doch nachgetrauert haben. Umso mehr freute sich Fraktions-Chef Andreas Koch: „Dass wir um diese Zeit vollzählig beisammen sind, ist beachtlich. Solch eine Aktion habe ich in 21 Jahren noch nie erlebt – und ich bin froh, dass ich dabei sein darf. Als Sozialdemokraten steht es uns gut an, die Arbeitswelten all unserer Mitglieder näher kennenzulernen.“

Vielleicht war’s ja die Aussicht auf ein leckeres Arbeitsfrühstück, das den SPD-Ratsmitgliedern die Teilnahme an der ungewöhnlichen Fraktionssitzung schmackhaft gemacht hatte. Doch auch da galt: Erst die Arbeit und dann das Vergnügen. Deshalb banden sich alle zunächst die Schürzen um und versuchten sich in der Kunst der Brezel- und Seelen-Herstellung. Ein bisschen ungewohnt war das für manche anfangs schon, doch unter der kundigen Anleitung von Florian Dieringer und seinem Mitarbeiter Manfred Haberl wurde der Teig mit jeder Brezel fachgerechter gerollt und geschlungen. Während sich Richard Kramartschik lieber mit weniger aufwendigen Laugenstangen begnügen wollte, erwies sich Nicolas Fink als Naturtalent. Die Empfehlung aus dem Kollegenkreis, als Nebenerwerbs-Bäcker anzuheuern, quittierte Fink mit Lächeln – um sogleich eine Lanze fürs Bäckerhandwerk zu brechen: „Ich bin froh, dass es Bäckereien gibt, in denen alles von Hand gemacht ist. Die Brezel-Herstellung soll man auch in Zukunft Bäckern anvertrauen und nicht den Maschinenbauern.“

Dabei könnte Florian Dieringer gute Mitarbeiter brauchen: „Wir haben ein sehr gutes Team. Wenn man jedoch in unserer Branche neues Personal sucht, hat man es nicht leicht.“ Das mag auch an den Arbeitszeiten liegen: Die ersten fangen bereits um 1 Uhr in der Frühe an, spätestens um 2.30 Uhr müssen alle an Bord sein. Der Chef macht selbstverständlich mit – sogar am vergangenen Wochenende, als sich der Gemeinderat zwei Tage lang zur Klausurtagung in Bad Boll traf: Mitten in der Nacht stand Dieringer an beiden Tagen noch in Esslingen in der Backstube, ehe er sich auf den Weg in Richtung Alb machte, um in Klausur zu gehen. Und wie schafft er es, Bäcker-Beruf und politisches Ehrenamt unter einen Hut zu bringen? Dieringer antwortet mit entwaffnender Offenheit: „Indem man auf Schlaf verzichtet.“ Immerhin hat er bei seiner Kandidatur gewusst, worauf er sich einlässt. Sein Großvater Otto Dieringer saß früher ebenfalls für die SPD im Gemeinderat, was wohl auch Andreas Kochs Frage beantwortet: „Wie kommt es, dass jemand, der ständig mit weißem Mehl arbeitet, zur roten SPD kommt?“

Während die Brezeln und Seelen aus sozialdemokratischer Produktion noch im Backofen schwitzten, ging’s ein paar Häuserecken weiter im Café „Flo Schwesterherz“ für die SPD-Fraktion kommunalpolitisch weiter – immerhin hatte Andreas Koch für die nächtliche Sitzung einen langen Themenkatalog parat. Gesprächsstoff gab es gerade genug, schließlich hatte die Stadtverwaltung die Ratsmitglieder am Wochenende während der Klausurtagung in Bad Boll mit einer Fülle von Themen, Vorschlägen und Konzepten bedacht. Und egal, ob’s um die rückläufigen Steuereinnahmen der Stadt, die Schulentwicklung, die Stadtbücherei, anstehende Groß-Bauprojekte oder den „Stadtkompass ES 2027“ ging – zwei Stunden lang wurde angeregt diskutiert, während draußen in der Bahnhofstraße die ersten Passanten vorbeigingen und neugierig durchs Schaufenster hereinschauten, weil man Stadträte um diese Tageszeit nicht alle Tage debattieren sieht. Und für Wolfgang Drexler, den Initiator der ungewöhnlichen Aktion, stand hinterher fest, dass er mit seiner Idee richtig lag: „Wir sollten uns häufiger um 4 Uhr in der Frühe zur Sitzung treffen. Da arbeitet man gleich noch viel konzentrierter.“