Ob bei häuslicher, sexualisierter oder krimineller Gewalt: In der Trauma-Ambulanz des Klinikums bekommen Opfer Hilfe. Foto: dpa - dpa

Wer Opfer einer Gewalttat wird, hat Anspruch auf Behandlung – sowohl bei körperlichen als auch bei psychisch-seelischen Verletzungen. Die Trauma-Ambulanz am Klinikum Esslingen bietet schnelle Hilfe an.

Esslingen W er Opfer einer Gewalttat wird, hat Anspruch auf Behandlung. „Das gilt nicht nur bei körperlichen, sondern auch bei psychischen Verletzungen“, erklärt Björn Nolting, Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum Esslingen. Da sich der promovierte Mediziner schon lange mit der Traumatherapie beschäftigt, hat die Klinik am Modellprojekt Trauma-Ambulanzen teilgenommen. Die hatte das baden-württembergische Sozialministerium vor vier Jahren an sechs Standorten – darunter am Klinikum Esslingen – eingerichtet (siehe Anhang). Weil der Pilotversuch gezeigt hat, „dass das Angebot sinnvoll und notwendig ist, wurde es verstetigt“. So bekommen von Gewalt Betroffene auch künftig am Esslinger Klinikum Hilfe.

Ungefähr jeder Zweite wird mindestens ein Mal in seinem Leben mit einer traumatischen Situation konfrontiert. Unfälle können die Psyche ebenso aus dem Gleichgewicht bringen wie eine Krankheit, ein Un Chefarzt Björn Nolting leitet die Trauma-Ambulanz.Bulgrin glück, Gewalttaten, sexuelle Übergriffe oder der Verlust eines nahestehenden Menschen. „Aber nicht jeder, der Gewalt oder eine Katastrophe erlebt, wird krank“, sagt Björn Nolting. „Und nicht jedes Trauma muss behandelt werden.“ In den meisten Fällen werde das Erlebnis ohne schwerwiegende Schäden für die Seele verarbeitet. „Unsere Aufgabe ist es, die rauszufischen, die das nicht schaffen und Hilfe brauchen.“

Wie mit einem Trauma umgegangen wird, hänge nicht zuletzt von äußeren Umständen ab. So könne etwa ein junger Mann, der in der S-Bahn von einem Betrunkenen angegriffen wird, die Attacke leichter verarbeiten, „wenn er selbst psychisch stabil ist, in gefestigten Beziehungen und einem guten sozialen Umfeld lebt“. Kommt es nach einem derartigen Angriff zu sogenannten Vermeidungsstrategien – etwa dergestalt, dass sich der Überfallene nicht mehr traut, S-Bahn zu fahren oder vor die Haustür zu gehen – „ist es sinnvoll, Hilfe anzunehmen. Denn sonst wird die Lebensqualität des Betroffenen massiv eingeschränkt“, sagt Björn Nolting, der in der Esslinger Trauma-Ambulanz gemeinsam mit seinem Team eine 24-Stunden-Rufbereitschaft sicherstellt. „Somit bekommen Betroffene bei uns zeitnah einen Termin.“

Zunächst stehen fünf Einzel-Therapiesitzungen auf der Agenda. Finanziert werden sie über das beim Landratsamt angesiedelte Versorgungsamt. „In den meisten Fällen reichen diese fünf Sitzungen aus“, hat der Chefarzt im Verlauf des Modellprojekts festgestellt. „Wir haben aber die Möglichkeit, weitere zehn Therapiestunden zu beantragen.“ Denn in der Trauma-Ambulanz melden sich auch Frauen und Männer, „die bereits vortraumatisiert sind, weil sie zum Beispiel früher vergewaltigt worden sind oder in der Ehe Gewalt erlebt haben. Und da brauchen wir unter Umständen mehr Zeit.“ Zwar gilt auch in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Leitsatz, „ambulant vor stationär“. In komplexen Fällen komme man aber manchmal nicht um eine Behandlung in der Tagesklinik herum, die parallel zur Trauma-Ambulanz aufgebaut worden ist. Zudem gibt es am Klinikum eine Therapiestation. Dass das Angebot der Trauma-Ambulanz von Beginn an gut angenommen worden ist, liegt für Björn Nolting unter anderem daran, dass psychische Beschwerden mittlerweile in der Gesellschaft weniger tabuisiert werden. „Es hilft auch, dass wir als Teil des Klinikums wahrgenommen werden.“ Zudem habe die Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowohl bei Opferverbänden wie dem Weißen Ring als auch bei der Polizei und den niedergelassenen Ärzten einen guten Ruf.

Nicht jedes traumatische Erlebnis wirkt gleich belastend. Am schwersten zu verarbeiten sei eine Vergewaltigung oder der Verlust eines Kindes. Opfer von Kriegen oder Naturkatastrophen „werden nicht so häufig krank, weil davon auch andere betroffen sind. Eine Vergewaltigung betrifft hingegen genuin diese eine Person“, erläutert der Facharzt für psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Psychoanalyse. Bei der Behandlung in der Trauma-Ambulanz ist es ihm wichtig, den Hilfesuchenden zu erklären, „dass es ganz normal ist, wenn es nach einem traumatischen Erlebnis zu psychischen Problemen kommt und dass sich die Seele auch wieder erholt“. In den Therapiesitzungen geht es den Ärzten zuvörderst darum, die Ressourcen der Betroffenen zu heben. „Wir erinnern sie daran, was ihnen früher in belastenden Situationen geholfen hat und arbeiten in Richtung Hilfe zur Selbsthilfe.“

Stationen des Modellprojekts

Auftakt: Im Frühjahr 2014 hat das baden-württembergische Ministerium für Soziales und Integration an sechs Standorten das auf drei Jahre angelegte Modellprojekt Trauma-Ambulanz gestartet. Neben Esslingen gibt es Trauma-Ambulanzen in Aalen, Offenburg, Ravensburg, Schwetzingen und Reutlingen. Das Zentrum für Traumaforschung der Uni Ulm hat das Modellprojekt wissenschaftlich begleitet und nach drei Jahren bewertet.

Auswertung: Das statistische Material der Esslinger Trauma-Ambulanz haben die Wissenschaftler des Ulmer Zentrums für Traumaforschung ausgewertet. So sind sie der Frage nachgegangen, wer die Tat begangen hat. In 70,5 Prozent der Fälle waren bekannte Personen wie Ex-Männer, Freunde oder Partner die Täter. Bei der Art der Delikte liegt die „Körperliche Verletzung ohne Waffengewalt“ mit 35,2 Prozent vorne, gefolgt von Vergewaltigungen (19,7 Prozent) und „Körperliche Verletzung mit Waffengewalt“ (13,6 Prozent).

Fazit: Nach Auswertung der Daten kommen die Wissenschaftler der Uni Ulm zu dem Schluss, dass das Angebot „insgesamt sehr erfolgreich“ ist. Deshalb biete sich für Baden-Württemberg eine „Verstetigung“ an. Die Forscher merken jedoch an, dass das Angebot für Kinder und Jugendliche ausgebaut werden sollte.