Zum 200-jährigen Jubiläum der Synagoge öffnet die jüdische Gemeinde das Haus für öffentliche Führungen. Zum Auftakt lud Joachim Hahn zu einer Reise durch die jüdische Vergangenheit.
Esslingen Was haben die Kartuschen an den Türpfosten zu bedeuten? Warum hängt mitten im Betsaal ein Vorhang? Und wie sicher fühlen sich die Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens in Esslingen? Die 30 Frauen und Männer, die zur ersten öffentlichen Führung in die Synagoge im Heppächer kamen, hatten viele Fragen mitgebracht. Gruppen heißt die jüdische Gemeinde zwar immer wieder willkommen. Für Einzelpersonen gab es bisher jedoch keine Führungen. Dass die Israelitische Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) mit diesem Angebot anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Esslinger Synagoge den Nerv getroffen hat, zeigte sich am Donnerstagabend. „Wir sind überwältigt“, sagte Iris Schweikert, die sich bei der IRGW als Sozialarbeiterin um die Mitglieder der jüdischen Gemeinde kümmert. „Wir hatten so viele Anmeldungen, dass wir vielen Interessierten leider absagen mussten.“ Damit auch sie das Gebetshaus und Gemeindezentrum kennenlernen, gibt es weitere Führungen (siehe Anhang). Zum Auftakt hatte die IRGW mit Pfarrer Joachim Hahn einen profunden Kenner der jüdischen Geschichte gewonnen. Der promovierte Theologe aus Plochingen hat ein dickes Buch über das jüdische Leben in Esslingen geschrieben. „Und er hat uns auf das Jubiläum der Synagoge aufmerksam gemacht“, sagte Elena Braginska, Mitglied der jüdischen Gemeinde sowie der IRGW-Repräsentanz.
„Brutal zweckentfremdet“
Wer sich im Foyer der Synagoge umschaut „sieht nichts mehr aus dem Jahr 1819“, verdeutlichte Joachim Hahn – und war in einem der dunkeln Kapitel der jüdischen Geschichte Esslingens angekommen. Nachdem ein aufgeputschter Mob am Nachmittag des 10. November 1938 die Synagoge gestürmt und sie ihrer Inneneinrichtung sowie der Thorarolle beraubt hatte, ließen die Nationalsozialisten das ehemalige Zunfthaus der Schneider 1941 zum Heim für die Hitlerjugend und den Bund Deutscher Mädel (BDM) umbauen. „Sie haben das Gebäude brutal zweckentfremdet und auch die Wände des früheren Betsaals im ersten Stock herausgerissen.“ Seit der Wiedereröffnung im März 2012 kommt die Gemeinde im Erdgeschoss zu ihren Gottesdiensten zusammen. Der Betsaal ist schlicht eingerichtet, „hat aber mit dem Thoraschrein, der Thorarolle und dem Lesepult alles, was er braucht“, verdeutlichte der Theologe und erklärte, was auf dem dunkelroten Samtvorhang des Thoraschreins geschrieben steht. „Das ist der aaronitische Segen, der von Juden und Christen gesprochen wird und die beiden Religionen verbindet.“ Trennende Funktion hat hingegen der weiße Vorhang in der Mitte des Betsaals. „Im Gottesdienst sitzen Frauen und Männer getrennt, und damit die Männer nicht von der Schönheit der Frauen abgelenkt werden, wird der Vorhang zugezogen“, sagte Joachim Hahn. Dies gilt jedoch nur für Gottesdienste nach dem orthodoxen Ritus. Kommt die liberale Gruppe der IRGW in der Esslinger Synagoge zusammen, „dann sitzen Frauen und Männer gemischt“, berichtete Elena Braginska.
Blühende jüdische Kultur
Die jüdischen Familien, die sich 1806 mit einem Schutzbrief des württembergischen Königs Friedrich I. in Esslingen niedergelassen und im Jahr 1819 das stolze Fachwerkhaus im Heppächer gekauft hatten, waren nicht die ersten Juden in Esslingen. „Im Mittelalter gab es eine ganz bedeutende jüdische Gemeinde in der Stadt“, weiß Joachim Hahn. Von deren wirtschaftlicher Kraft zeugt die Reichsteuerliste aus den Jahren 1241/42. In der ist aufgelistet, wie viel Geld die Freie Reichsstadt Esslingen an das Reich abgeführt hat. „Die Esslinger Juden haben damals 30 Mark Silber bezahlt. Das war ein hoher Betrag.“ Zum Vergleich: Die jüdische Gemeinde in Ulm führte lediglich vier Silbermark ab. Von der blühenden jüdischen Kultur zeugt zudem der berühmte Esslinger Machsor. In dem Gebetsbuch, das um 1290 entstanden ist, findet man auch eine Abbildung, auf der möglicherweise die südlich des Hafenmarkts gelegene mittelalterliche Synagoge zu sehen ist. Dorthin floh ein Teil der jüdischen Bevölkerung während der Pestpogrome der Jahre 1348 und 1349 „und wurde bei lebendigem Leib verbrannt“. Mitte des 16. Jahrhunderts verwies der Rat der Stadt Esslingen dann alle jüdischen Familien der Stadt, „sodass es bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts in Esslingen keine Juden mehr gab“, berichtete Joachim Hahn, der über das jüdische Leben, das seit einigen Jahren wieder in der Stadt erblüht, „sehr froh ist“.
Doch wie sicher fühlen sich die Esslingerinnen und Esslinger jüdischen Glaubens? „Wir fühlen uns so sicher wie alle anderen Leute in dieser Stadt“, sagte Elena Braginska. Die Gemeinde pflege gute Kontakte in alle Bereiche der Stadtgesellschaft. „Die muslimischen Gemeinden haben für unsere neue Thorarolle ebenfalls Geld gesammelt.“ Auch mit den Nachbarn gibt es keine Probleme. „Sie haben einen positiven Blick auf unsere Gemeinde.“