Stummer Protest gegen die Wohnungsnot. Foto: Roberto Bulgrin - Roberto Bulgrin

Stummer Protest mit künstlerischen Mitteln: Obdachlose demonstrieren in der Esslinger Fußgängerzone. Und ein Tagestreff mit Domizil in den Gassen der Altstadt feiert.

EsslingenEin paar Mal gießt es an diesem Tag, aber zwischen 11 und 12 Uhr Mittag spielt das Wetter mit. Es bleibt trocken. Ein halbes Dutzend Menschen haben sich in ein hellblaues, verwaschenes Kostüm aus einfachem Stoff geworfen, eine anonyme Maske übergezogen und sich im Abstand von mehreren Metern an die alten Steine der Inneren Brücke im Herzen der Esslinger Altstadt gekauert. Vor sich einen Bettlerhut und ein Schild: „Suche bezahlbare Wohnung“ steht in schön gekringelter Schrift auf braunem Karton. Es ist Samstag, der Herbst löst gerade den Sommer ab und viele Menschen sind unterwegs in der Esslinger Innenstadt, machen Besorgungen und werden Zeuge der seltsamen Darbietung.

Es ist ein Versuch, mit künstlerischen Mitteln auf ein Problem aufmerksam zu machen: Der fehlende Wohnraum ist für viele Menschen ein Problem, für arme Menschen aber geradezu unlösbar. Die Darsteller sind nicht als Schauspieler ausgebildet, aber sie müssen sich auch nicht in ihre Rolle einfühlen. Sie leben sie, weil sie sich selbst auf permanenter Wohnungssuche befinden. Als sich später ein Straßenmusiker zu ihnen gesellt und sich die stummen Wohnungssuchenden ein wenig im Rhythmus seiner Gitarre bewegen, sieht es fast romantisch aus. Alles halb so wild, oder?

Eine derer, die dort sitzen, ist Manuela Fritsch. Wild ist ihr Leben tatsächlich nicht, eher niedergeschlagen. Sie arbeitete in einer Konditorei und bei Sicherheitsdiensten. Heute ist sie „Hartz 4“. Ein paar Euro – zwei pro Stunde – verdient sie sich als „Ein-Euro-Jobberin“ hinzu. Im Amtsdeutsch ist das eine „Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung“, die dazu dient, Arbeitslose bei der Eingliederung in eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu unterstützen. Die Maßnahmen sind an feste Regeln geknüpft: Zum einen werden sie mit ein bis zweieinhalb Euro nur symbolisch bezahlt. Rechtlich gesehen ist es, wie der Name schon sagt, eine Entschädigung, kein Lohn. Zum anderen sollen Ein-Euro-Jobber anderen keine Stelle wegnehmen. Es muss also eine Arbeit sein, die sonst niemand machen würde, weil es sich nicht lohnt. Ein Konstrukt, das Fragen aufwirft: Macht eine Arbeit Sinn, für die man so gut wie nichts bekommt? Wo man sich das Geld schneller erbetteln könnte? Sie hat diese Frage für sich beantwortet. Ja, tut es.

Seit einem Jahr trägt sie einen Wohnungsschlüssel in der Tasche. Es ist eine vorübergehende Bleibe bei einem Verein der Diakonie mit dem bildhaften Namen „Heimstatt“. Der Verein bietet Wohnungen für Menschen an, die keine mehr finden können. Befristet auf vier Jahre, in der Hoffnung, dass sich damit die Chancen auf dem Wohnungsmarkt erhöhen.

Nun hat Manuela Fritsch also ein Dach über dem Kopf. Unter dem sie sich manchmal am liebsten verkriechen würde. Die „Arbeitsgelegenheit“ verhilft ihr nicht zu einem Vermögen, aber sie zwingt sie dazu, dass sie „wenigstens ein Mal am Tag rauskommt“.

Es kommt etwas Regelmäßiges in ihren Alltag. Sie hat Aufgaben. Hilft bei der Vorbereitung von Veranstaltungen, kümmert sich um dies und das. Das hilft gegen die seelische Ermattung, gegen die „Depressionen“, wie sie selbst nebenbei bemerkt. Den Job bekam sie von „Kultur am Rande“, einem Verein, der seine Aufgabe darin sieht, Menschen „am Rande“ zu unterstützen und kulturell eine Bühne zu geben. Es ist genau dieser Verein, der auch die Aktion auf der Inneren Brücke organisiert hat.

Für fast 300 000 Menschen, die es betrifft, und alle anderen, die es nicht unmittelbar betrifft, gibt es in Deutschland einen „Tag der Wohnungslosen“. Aber der war vor fast drei Wochen und zog weitgehend unbeachtet vorbei an der öffentlichen Aufmerksamkeit. Insofern ist es ein Zufall, dass jetzt gleich zwei Veranstaltungen unabhängig voneinander am selben Wochenende stattfinden. Das zweite Ereignis passierte am anderen Ende der Altstadt am Vorabend der Brückenaktion. Der Tagestreff St. Vinzenz – oder kurz auch Vinzenztreff – feierte Geburtstag. Seit 25 Jahren finden hier Menschen, die am Rand des Existenzminimums leben, Unterstützung. Warme Mahlzeiten, Kleidung, ein warmes Plätzchen, wenn es draußen kalt wird, ein Gespräch, wenn die Last der Einsamkeit nicht mehr erträglich ist. Hinter dem Vinzenztreff – materiell sichtbar in einem roten Haus in der Gasse der Mittleren Beutau – steht ein Stiftung und hinter der Stiftung die katholische Kirche und ein Freundeskreis.

Viele waren gekommen am Freitagabend, Helfer und Gäste, um etwas Musik und ein paar kurze Reden zu hören und zusammen zu essen. Einer, der bei der Organisation des Festes half und in diesem Rahmen auch eine Fotoausstellung zum Thema im Münster St. Paul mitorganisierte, ist Stefan Möhler. Der Pfarrer leitet die Katholische Gesamtkirchengemeinde in Esslingen. Er macht auf einen interessanten Wandel aufmerksam: Früher, das heißt zu Beginn des Vinzenztreffs, kamen viele Durchzügler. Sie waren oft mit großen Hunden unterwegs. Sie nannten sich Berber, schliefen unter den Brücken oder sonst wo. Viele waren kräftig genug, um zu reisen. Bereits in den 1990ern wandelte sich das Bild. Viele Osteuropäer strandeten in westeuropäischen Städten und begruben dort nach und nach ihre Hoffnungen auf Wohlstand und mehr Lebensqualität, von der sie zu Beginn ihrer Reise noch angetrieben worden waren. Aber auch für die Menschen aus der Region änderte sich offenbar etwas, teilweise zum Besseren. „Früher war es vor allem die Obdachlosigkeit. Heute haben wir sehr viele Arme, die zwar irgendwo untergekommen sind. Aber sie haben oft psychische Probleme. Oder kämpfen mit einer Sucht. Wir geben ihnen ein Stück zweites Zuhause.“

Ein Zuhause können sie gut gebrauchen, denn soziale Kontakte funktionieren fast immer nur, wenn man „im Leben steht“ – und nicht außerhalb. Die Einsamkeit gehört deshalb zu den besonders schweren Bürden, die Menschen in Wohnungs- und Existenznot tragen. Max Georg Katzur hat aber Fridolin, die Katze. Er hat auch einen menschlichen Gefährten, mit dem er ab und zu im Vinzenztreff am Tisch sitzt. Der ist aber wortkarg, weil er nichts und niemandem traut. Immerhin lässt er wissen, woher er kommt. „Aus der Sowjetunion.“ Welche Stadt? Kiew, Hauptstadt der Ukraine.

Vor einigen Monaten saß noch ein Dritter in der Runde, der hat sein weniges Geld „durch die Gurgel gejagt“, also zu viel getrunken, und ist jetzt tot. Im Gegensatz zu dem schweigsamen Mann „aus der Sowjetunion“ ist Max Georg Katzur redselig. Er weiß viel, insbesondere über Filme. In seinem Berufsleben arbeitete er als Kraftfahrer, jetzt bezieht er eine kleine Rente und hat auch eine Wohnung. „Ohne Heizung“, sagt er, und schiebt nach, dass er inzwischen einen kleinen Elektroheizer habe.

Wenn er die Miete bezahlt hat, bleiben ihm etwa zehn Euro pro Tag für alles andere. Essen, Kleidung, Fahrkarten, Energie, was man so braucht. Vergnügungen, die kosten, ein kleiner Luxus, eine besondere Schokolade, eine besondere Seife, das steht nicht auf der Menükarte seines Lebens.

Wenige Meter entfernt vom Vinzenztreff erhebt sich am Marktplatz das Münster von St. Paul. In einem Seitengang wurden im Rahmen des Vinzenztreff-Festes große Fototafeln aufgestellt. Es sind eindrucksvolle Bilder der Fotografin Karin Powser, die selbst lange obdachlos war und ein starkes Auge für die Kälte hat, in denen Menschen stecken, wenn sie fast nichts außer ihrer Kleidung am Leib besitzen und vielleicht noch eine Katze und einen Elektroheizer.

Wie viele ihresgleichen leidet auch diese große, alte Kirche im Innern unter einem Mangel an Licht. Die Lichtverhältnisse passen aber gut zum Thema. Die „im Dunkeln“ sieht man nicht. Selbst wenn es hell ist. Vielleicht nur, wenn sie sich wie Manuela Fritsch mitten am Tag an einen belebten Ort mitten in der Altstadt eine Maske aufs Gesicht setzen.