Orchester gibt beim Mitmachkonzert den Takt vor. Foto: Andreas Kaier - Andreas Kaier

Chor und Publikum proben und treten zusammen auf – beim Oratorienverein ist dieses Experiment geglückt.

EsslingenM it einem interaktiven „Rendezvouskonzert“ beging der traditionsreiche, weitaus älteste Konzertchor Esslingens sein 175-jähriges Jubiläum auf ungewöhnliche und durchaus mutige Art und Weise: mit einer einstündigen Einstudierung plus Aufführung der berühmten, doppelchörigen, äußerst anspruchsvollen Bachmotette „Singet dem Herrn ein neues Lied“ mit Sängerinnen und Sängern des Chors des Oratorienvereins einerseits und mit vielen Zusatzstimmen, quasi aus dem Publikum, andererseits.

Der langjährige künstlerische Leiter des Oratorienvereins Jörg Dobmeier begrüßte alle erwartungsvollen Anwesenden und ging mit Einteilung und Aufstellung von Chorsängerinnen und -sängern und der Gaststimmen in zwei Chören, links und rechts des Altars gleich in medias res, während das dem Oratorienverein seit Jahrzehnten zugehörige, tüchtige und zuverlässige Streichorchester bereits konzentriert auf seinen Einsatz wartete.

Die immer wieder in Musikerkreisen auftauchende Frage, ob Bach seine Motetten mit einem colla parte spielenden Orchester oder a cappella dachte und zur Aufführung brachte, wurde damit klug entschieden. Das Orchester erwies sich in der gut halbstündigen, ungemein effektiven Probenphase und anschließenden Aufführung der äußerst anspruchsvollen Komposition rhythmisch und zur Stütze der Intonation und des Klangs als zusätzlich haltgebend.

Dobmeier verbreitete mit dem Aufrollen der Komposition zu Beginn der Probenphase die Zuversicht, dass das Wagnis einer Aufführung der Motette mit zumindest teilweise ungeübten Stimmen gelingen könnte. Im vierten und letzten Satz der Motette wird von beiden Chören gemeinsam mit rasanten Koloraturen zu Beginn des Themas und mit durchweg instrumentalem Habitus der vierstimmige Fugensatz, vom Bass bis zum Sopran, konsequent aufsteigend, nach kurzem Üben erstaunlich treffsicher, virtuos und klangmächtig dargebracht; die Jubeltöne des Soprans hinauf bis zum hohen b klingen wunderbar nach einem lehrreichen Hinweis des Dirigenten.

Nicht weniger überraschend gut gelang der konzertante Wechsel zwischen den zwei Chören im dann folgenden dritten Satz der Motette. Sein tänzerisch fröhlicher, ja musikantischer Charakter überzeugte sowohl im zur Übung vorangestellten Orchesterspiel alleine wie mit den beiden gleichwertig stimmgewaltigen Chören. Die Aria, mit empfindsamem Choralsatz im zweiten Chor und einer kommentierenden polyphonen Stimmführung im ersten Chor, gelang eindrucksvoll durch die unterschiedliche Gewichtung in der Dynamik und schließlich ebenso der erste präludienhafte Satz durch die vom Dirigenten geforderte „Wucht im Schwung“, die vor allem durch die Rufmotive „Singet“ generiert wird. Der umfangreiche zweite Teil im Fugensatz wurde ausgelassen. Die nun ohne Unterbrechung und in richtiger Reihenfolge dargebrachte, herrlich in der Höhe strahlende und temporeiche Aufführung erfreute und überzeugte, ja beseligte sowohl Mitwirkende wie Zuhörer in hohem Maße.

Das Gefühl, dass es mit dem kostbaren, aber doch immer wieder als fragil empfundenen Kulturgut des klassischen Chorsingens und der klassischen Musik in Esslingen auch nach 175 Jahren noch gut bestellt sein muss, konnte sich ohne Wenn und Aber bei allen Beteiligten einstellen, verbunden mit der innigen Hoffnung, dass dieses auch in naher wie ferner Zukunft Bestand haben möge.

Der sich anschließende profunde Festvortrag von Professor Ulrich Prinz über die reichhaltige, sozial wie kulturell mindestens sechs Generationen überspannende Geschichte des Oratorienvereins Esslingen hatte, neben der musikwissenschaftlich diffizilen und äußerst umfangreich recherchierten Frage zur Datierung der Gründung des Chors, vor allem diesen, Musiktreibende, Hörende und die gesamte Stadtgesellschaft berührenden entscheidenden Aspekt im Sinn.