Gerhard Polacek (rechts) macht auch als Grillmeister eine gute Figur. Quelle: Unbekannt

Von Alexander Maier

Mitten in den Weinbergen hegen und pflegen die Mitglieder des Obst- und Gartenbauvereins Mettingen ein kleines Paradies. Wer dort den Blick über blühende Beete, malerische Rosenbögen und üppig behangene Kirschbäume schweifen lässt, fühlt sich sofort eins mit der Natur. Meist sind dort Naturliebhaber unter sich, doch für die Reihe „Erlesene Orte“, die Stadtbücherei und Eßlinger Zeitung jedes Jahr zur Sommerzeit gemeinsam organisieren, öffnete der Vorsitzende Fritz Gneithing den Vereinsgarten einen Abend lang. Und diejenigen, die das Glück gehabt hatten, eine der raren Eintrittskarten zu ergattern, erlebten eine Lesung, die sie so rasch nicht wieder vergessen dürften.

Mittlerweile sind die „Erlesenen Orte“ eine feste Größe im sommerlichen Veranstaltungsprogramm in Esslingen geworden. Bücherei-Leiterin Gudrun Fuchs, der Schauspieler Gerhard Polacek und die Lokalredaktion unserer Zeitung suchen für diese Reihe ganz besondere Plätzchen aus, die nicht jeder auf der Rechnung hat, und die man mit Literatur nicht unbedingt in Verbindung bringen würde. Und ganz egal, ob im Turmzimmer der Stadtkirche, in der Hochwacht oder im Dicken Turm, im historischen Wasserspeicher auf der Esslinger Burg oder in einem Künstleratelier gelesen wird - stets stellt Polacek ein literarisches Programm zusammen, das perfekt zum jeweiligen Ort passt und das das erlesene Publikum mit immer neuen Überraschungen konfrontiert. So bleibt jeder Abend einmalig - auch wenn die Eintrittskarten meist im Handumdrehen vergriffen sind, sind Wiederholungen ausgeschlossen.

Literaturgenuss und Würstl

Es gehört zum Konzept der „Erlesenen Orte“, dass der literarische mit einem kulinarischen Genuss Hand in Hand geht. Diesmal empfing Gerhard Polacek seine Gäste im Mettinger Vereinsgarten erst mal als Grillmeister: Zusammen mit Fritz Gneithing und seinem unermüdlichen Helfer-Team servierte der Schauspieler frisch gegrillte Würstl und kühle Getränke. Und weil zwischendurch immer wieder ein kühles Lüftchen durch die Weinberge wehte, blieb’s im Vereinsgarten unter der großen Markise trotz hochsommerlicher Temperaturen angenehm.

Dazu mag auch beigetragen haben, dass Gerhard Polacek seine Zuhörer literarisch in kühlere Regionen entführte - mit Raoul Schrotts Buch „Erste Erde Epos“ (Hanser-Verlag, 68 Euro). Dieses Werk ist nicht nur ob seines stattlichen Umfangs, sondern mehr noch ob seiner Inhaltsschwere etwas ganz Besonderes. Denn der renommierte Dichter hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Wissen der Welt mit Literatur und Poesie zu verbinden. Schrotts Credo spricht für sich: „Nie zuvor gab es so viel an Wissen über den Menschen und das Universum - doch je mehr Daten und Details angehäuft werden, desto weniger verstehen wir im Grunde. Wir wissen zwar, dass die alten Mythen nicht mehr stimmig sind - eine andere Geschichte, die uns und die Welt erklärt, gibt es jedoch nicht.“

Genau wie dieses wunderbare Werk ein durch und durch sinnlicher Genuss ist, machte auch Gerhard Polacek den Abend im Mettinger Vereinsgarten zum schieren Genuss. Für seine Lesung hatte er eine Passage aus „Erste Erde Epos“ ausgewählt, die nur bei flüchtigem Hinhören so gar nicht zum üppig grünenden und blühenden Ambiente passte, auf den zweiten Blick dagegen umso besser. Schrott erzählt, was es heißt und wie es sich anfühlt, wenn man das älteste Stück Erde, das man finden kann, in Händen hält - ein mehr als vier Milliarden Jahre altes Stück Gneis, dem man in der arktischen Tundra Kanadas begegnen kann, und der vom allerersten Festland stammt, das sich nach der Entstehung unserer Erde bildete.

Genau wie die beiden Reisenden, die in Raoul Schrotts Buch staunend vor diesem Wunder der Natur stehen, lauschten auch die Gäste der „Erlesenen Orte“ andächtig Polaceks Lesung. Und manchem mag zwischendurch beim Blick ins weite Rund der zauberhaften Anlage des Obst- und Gartenbauvereins Mettingen einmal mehr bewusst geworden sein, was aus den allerersten Anfängen der Erdwerdung entstanden ist - und was es zu bewahren gilt. Denn solch ein kleines Paradies, wie es Fritz Gneithing und seine Mitstreiter geschaffen haben, ist genau wie Raoul Schrotts Buch ein kostbarer Schatz.

Mit ihrer Reihe „Erlesene Orte“ gastieren Stadtbücherei, Eßlinger Zeitung und Gerhard Polacek am 3. August im Berberdorf. Wenige Restkarten gibt es noch in der Stadtbücherei.