Cornel Foto: Bail - Bail

Bei Gewalt zu Hause oder Ärger mit dem Vermieter scheuen Menschen aus sozial schwachen Milieus aus Kostengründen oft den Rechtsweg. Der Anwaltverein Esslingen berät sie gratis.

EsslingenHäusliche Gewalt, Probleme mit dem Arbeitsvertrag, Scheidung? Wer über geringe Mittel verfügt, überlegt sich genau, ob er einen Anwalt hinzuzieht. Damit jeder Bürger Zugang zum Recht erhält, bietet der Anwaltverein Esslingen seit Jahren kostenlose Rechtsberatung für Kinder und Jugendliche sowie für Hilfsbedürftige an. „Viele Wohlfahrtsverbände wissen das gar nicht“, sagt Cornel Pottgiesser, neuer Vorstand der Interessensvertretung der Esslinger Anwaltschaft. 100 Mitglieder hat der freiwillige Zusammenschluss, der seit den 60er-Jahren besteht und die Fortbildung sowie den kollegialen Austausch fördert.

Mit der zweiten Vorsitzenden, der 36-jährigen Filderstädter Fachwanwältin für Familienrecht Vivien Dolde-Gass, und der Schatzmeisterin, der 40-jährigen Esslinger Rechtsanwältin Katrin von Au, ist der Vorstand jünger und weiblicher geworden. Für alle drei steht die Prävention im Vordergrund und dafür ist Öffentlichkeitsarbeit notwendig. „Wenn ich Recht bekomme, muss ich nicht Gewalt anwenden“, unterstreicht der 49-jährige Pottgiesser, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht, das Anliegen dieses ehrenamtlichen Engagements. Die wichtige Erfahrung, „der Staat verteidigt mich“, stärke Vertrauen und Selbstbewusstsein; zudem verhindere sie Frustration, die wiederum häufig zu Gewalt führe.

Funktioniert wie ein Arzt-Rezept

Die Mitglieder des Anwaltvereins engagieren sich an zwei Beratungsstellen der Stadt. Jeden zweiten und vierten Mittwoch im Monat gibt es im Jugendbüro Esslingen eine kostenlose Erstberatung für Kinder und Jugendliche. Zehn Kollegen wechseln sich ab, um jungen Menschen zwischen 14 und 27 Jahren zur Seite zu stehen, wenn sie Probleme mit Familie und Freunden, Ausbildungs- oder Handyvertrag haben. „Es geht nicht immer nur um Strafrechtsfragen“, betont Dolde-Gass. Manche wollen wissen, wie sie sich bei einer Zeugenaussage verhalten sollen, wie eine Gerichtsverhandlung abläuft, ob sie als Opfer bei einer Gewalttat als Nebenkläger auftreten können oder ob sie Unterhaltsanspruch gegenüber Erziehungsberechtigten haben. Letztlich geht es darum, die Schwierigkeiten nicht vor dem Richter enden zu lassen. Zwei bis sechs Jugendliche kommen pro Sitzung in die Beratung. 70 Prozent sind männlich, die meisten aus sozial schwachen Familien.

Auch die Hilfsbedürftigenberatung jeden Mittwoch am Amtsgericht Esslingen suchen eher Menschen aus bildungsfernen Schichten auf. Fünf bis zehn Ratsuchende, die nicht das erforderliche Geld für eine rechtliche Hilfe haben, kommen pro Woche. Fragen zu Kauf- und Mietrecht, Nachbarschaftsstreitigkeiten, Wohngeld, Bausachen, Schulangelegenheiten, zu Rente und Steuer werden vorgetragen. Eine Anmeldung ist erforderlich.

Wird ein Gerichtsverfahren notwendig, kann über einen Beratungshilfeschein ein Anwalt hinzugezogen werden. „Das funktioniert wie ein Rezept vom Arzt“, verdeutlicht Pottgiesser das Prozedere. Die Landesoberkasse übernimmt die Anwaltskosten. Die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse müssen vorher offengelegt werden. Wie beim Rezept wird eine Zuzahlung von 15 Euro fällig. „Viele erhalten beispielsweise Hilfe bei Scheidungen. Hat das Einkommen der Eheleute bis dahin ausgereicht, wird es bei einer Trennung mit zwei Haushalten plötzlich finanziell eng. Pottgiesser, Dolde-Gass und von Au engagieren sich im Anwaltverein, weil sie den Austausch mit Kollegen schätzen. Im Rechtsbereich gebe es so rasante Veränderungen, „es hilft mir, wenn ich weiß, an wen ich mich wenden kann“, so Dolde-Gass. Persönliche Kontakte seien da von unschätzbarem Wert. Experten übernehmen die Fortbildung. Dolde Gass führt die Bereiche der neuen EU-Datenschutzgrundverordnung oder den elektronischen Rechtsverkehr mit Gerichten an.

Gemeinsame Ausflüge

Einmal im Jahr findet eine Mitgliederversammlung statt. Jeden Monat gibt es einen Jour fix, bei dem gerade jüngere Kollegen die Möglichkeit haben, sich zwanglos mit erfahrenen Juristen kurzuschließen. Auch die gemeinsamen Ausflüge dienen dem Kontakt und dazu, „über den Tellerrand zu schauen“, wie es Cornel Pottgiesser formuliert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stand auf dem Programm und der Internationale Seegerichtshof in Hamburg. Denn: Wann erfährt man in Esslingen am Neckar schon mal was über Streitigkeiten auf den Weltmeeren?