Jutta Ditfurth behält die Ideale der 68er fest im Blick. Foto: Philipp von Ditfurth - Philipp von Ditfurth

Die Autorin und Politikerin Jutta Ditfurth hat den Aufbruch 1968 sehr bewusst erlebt. Im Interview mit EZ-Redakteur Alexander Maier spricht sie über die 68er-Generation.

EsslingenDas Jahr 1968 ist als Jahr des Aufbruchs in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen. Vieles hat sich damals in unserer Gesellschaft verändert, und manches von dem, was die junge Generation auf den Weg brachte, scheint heute selbstverständlich. Die Sozialwissenschaftlerin, Autorin und Politikerin Jutta Ditfurth spricht am Donnerstag, 12. Juli, ab 19.30 Uhr im Schauspielhaus der Esslinger WLB über „50 Jahre 1968“.

Wie haben Sie 1968 persönlich erlebt?
Was heute „68“ genannt wird, umfasst ja eigentlich die Zeit von 1964 bis 1968. Da lief „unsere kleine Kulturrevolte“, wie Rudi Dutschke sie nannte. Meine erste Erinnerung ist die Ermordung von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 in Westberlin. Ich war eine unpolitische 16-jährige Schülerin und ging in Heidelberg zur Schule. Ich sah die Demonstrationen, eines Tages schwänzte ich die Schule und schlich mich auf ein Teach-in der Studentinnen und Studenten. Als Benno Ohnesorg starb, schrieb ich in mein Tagebuch: „Heute haben sie einen von uns ermordet.“ Wir fühlten uns umzingelt von alten Nazis. Aber dann: „The Times They Were a-Changin“, und Musik war lebensnotwendig.

War Ihnen damals schon klar, was das in unserer Gesellschaft verändern würde?
Nein, dafür hatte ich mit 16 viel zu wenig Erfahrung. Ich hab’ das erst später Stück für Stück begriffen. Aber die APO hat mich befreit. Ich kam aus einer adligen Familie, ging in ein privates evangelisches Mädchengymnasium, war mit einem Burschenschaftler befreundet und wurde auf Adelsbälle geschleppt, damit ich in den richtigen Kreisen verkehrte. Aus dieser Welt konnte ich, der APO sei ewig gedankt, fliehen. Sind die Veränderungen weit genug gegangen oder gab es zu viele Kompromisse?
Na ja, es war keine soziale Revolution, aber immerhin eine Revolte. Einige SDSler hatten 1959 die „ungesühnte NS-Justiz“ zum Thema einer Ausstellung gemacht und begonnen, sich mit der Shoah zu befassen. Ein großes Thema war der Protest gegen den Vietnam-Krieg. Die Notstandsgesetze. Die Befreiung der Sexualität. Die APO stieß auch Bewegungen an, die sie selbst nicht mehr behandelte, zum Beispiel die feministische Bewegung und die Anti-Atom-Bewegung der 1970er-Jahre. Das alles war viel, aber längst nicht genug. Die Eigentumsverhältnisse wurden nicht erschüttert und die Arbeitsbedingungen der lohnarbeitenden Menschen blieben leider auch unverändert.

Sind 50 Jahre 1968 für Sie ein Anlass zum Feiern oder ein Datum zum Innehalten?
Beides. Gute Erinnerungen und kritische Selbstreflexion. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind heute doch schlimm, der gnadenlose Rassismus und der aggressive Antisemitismus. Das Rollback in der feministischen Frage und in der Emanzipation, der Befreiung des Menschen. Ich hätte damals nicht gedacht, dass große Teile des Bürgertums und ihrer Parteien sich eines Tages so von Völkischen und Nazis vor sich hertreiben lassen würden.

Wäre ein ähnlicher Aufbruch wie 1968 wieder nötig und wäre er unter den heutigen Gegebenheiten überhaupt möglich?
Die Bedingungen sind völlig andere. Es gab diesen immensen Schub an Nationalismus durch die so genannte Wiedervereinigung 1990, auf die prompt die Pogrome von Hoyerswerda und Solingen, von Rostock-Lichtenhagen und Mölln folgten. Dass Staat und Politik damals nicht eingriffen, die Opfer der rassistischen Attacken nicht schützten, die Täter sogar belohnten, indem sie 1993 das Asylrecht abschafften, war vermutlich für die Entstehung des NSU, Pegida und der AfD eine wichtige Voraussetzung. Auch die soziale Lage der Menschen ist anders als 1968. Durch die Agenda 2010, welche SPD und Grüne 2003 mit großen Mehrheiten beschlossen, sind ganze Bevölkerungsgruppen verarmt und ohne Perspektive. Dann die Enthemmung der Leiharbeit. Leiharbeit war 1968 noch eine Straftat. Eine Folge ist, dass viele arbeitende Menschen von ihrem Lohn nicht leben können und sich in zwei oder drei Jobs zu Tode schuften. Das nennt sich dann Abnahme der Arbeitslosigkeit. Dann die Weltwirtschaftskrise seit 2007, die sehr gezielt dazu benutzt wird, den Menschen erkämpfte Rechte zu nehmen. Was zu tun ist, können wir in der WLB diskutieren.

Auf dem Marsch durch die Institutionen sind viele der damaligen Protagonisten von ihrem einstigen Kurs abgekommen. War’s bei manchen mit der Überzeugung vielleicht doch nicht ganz so weit her?
Es gibt in jeder Phase der Geschichte Leute, die sich von einem fortschrittlichen Zeitgeist mitreißen lassen und dann dahin zurückschwanken, wo sie herkommen. Das hat auch mit ihren ökonomischen Interessen zu tun. Viele von denen, die von links nach rechts gegangen sind, kamen ursprünglich aus konservativen oder rechten Kreisen. Andere werden müde, manche zynisch, manche lassen sich einkaufen, manche wurden Außenminister und warfen Bomben auf Zivilisten. Aber ist es nicht schön, dass es so viele gibt, die durchgehalten haben und sich treu geblieben sind und dass immer neue dazu kommen?

Müssen wir uns wieder stärker bewusst machen, dass Freiheit und Gleichheit keine Selbstverständlichkeiten sind?
Wirkliche Freiheit ist ja erst auf Basis von sozialer Gleichheit möglich, und die gab es noch nie. Aber es ist schon eine paradoxe Situation, dass Linke wie ich, die weitergehende Vorstellungen haben, heute die bürgerliche Demokratie verteidigen – und zwar gegen diejenigen, die am meisten von ihr profitiert haben, sich aber jetzt in die Zusammenarbeit mit Völkischen und Nazis davonschleichen.

Was raten Sie jungen Menschen, die nur eine Welt mit den Errungenschaften der 68er kennen?
Ich habe in meiner politischen Arbeit hauptsächlich mit Jüngeren zu tun. Die kämpfen zäh und oft verzweifelt harte Kämpfe gegen Nazis, Rassisten, Antisemiten und all die anderen Menschenfeinde. Ich versuche, sie so gut wie ich kann zu unterstützen, theoretisch, praktisch, organisatorisch. Viele von ihnen haben nie einen Aufbruch wie wir in den 1960ern erlebt. Trotzdem stecken sie ihr halbes Leben in diese politische Auseinandersetzung. Sie bewundere ich. Und einige der alten Linken mit Sprüchen wie „Warum ist die heutige Jugend so und so?“ gehen mir gewaltig auf den Keks. Sie kleben mit ihren Erinnerungen an alten Zeiten und verstehen die neuen Kämpfe nicht. Aber es gibt sie, und das ist es, was zählt. Jeder politische Kampf ist mit Enttäuschungen verbunden. Hat sich alles gelohnt?
Ja. Stellen Sie sich vor, es hätte keine APO gegeben ...

Interview: Alexander Maier.

Heute in der WLB: Diskussion über 1968 und die Folgen

Die Veranstaltung: 1968 war für viele ein Jahr des Aufbruchs: Der Vietnam-Krieg, der Schah-Besuch, die Erschießung von Benno Ohnesorg durch die Polizei und andere politische Ereignisse brachten vor allem junge Menschen auf die Straße. Die Bewegung, die daraus entstand, war ein entscheidender Faktor für den Versuch, die Bundesrepublik zu demokratisieren. Vieles, was heute selbstverständlich ist, wurde damals erkämpft. Bert Heim von der Esslinger Buchhandlung Die Zeitgenossen hat die Sozialwissenschaftlerin und Politikerin Jutta Ditfurth zum Vortrag mit Diskussion eingeladen: Unter dem Titel „50 Jahre 1968“ geht Ditfurth am Donnerstag, 12. Juli, ab 19.30 Uhr im Schauspielhaus der Württembergischen Landesbühne der Frage nach, was damals war und was vom Aufbruch der 68er geblieben ist.

Der Gast: Jutta Ditfurth ist Jahrgang 1951 und hat die 68er-Zeit sehr bewusst erlebt. Sie hat sich als Sozialwissenschaftlerin, Politikerin und Journalistin einen Namen gemacht und kann als Autorin auf eine lange Bibliografie von politisch engagierter Sachliteratur und Belletristik verweisen. Sie zählte zu den Wegbereitern der Grünen und gehörte in den 80er-Jahren deren Bundesvorstand an.