Um die Wohnungsnot in Esslingen zu lindern, plädiert Carmen Tittel (rechts) für eine innerstädtische Verdichtung. Foto: Roberto Bulgrin - Roberto Bulgrin

Die Fraktionschefin der Grünen im Gemeinderat über Verkehrsprobleme und Wohnungsnot – Lieblingsort Katharinenlinde

EsslingenDas Stadtleben hat viele Facetten, und viele Menschen wirken auf die Geschicke ein. Wesentlichen Einfluss hat der Gemeinderat, der im vergangenen Jahr im Mai gewählt worden ist. Dort finden sich sechs Fraktionen und eine Ratsgruppe wieder, die aus ihrer Mitte eine Chefin, einen Chef oder eine Sprecherin wählen. In den kommenden Wochen wird die Eßlinger Zeitung kurze und prägnante Interviews mit diesen Frauen und Männern führen. Heute beantwortet die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Carmen Tittel, die Fragen der EZ. Die Grünen waren als stärkste Kraft aus den Wahlen hervorgegangen. Bereits erschienen ist in der vergangenen Woche ein Interview mit dem SPD-Fraktionschef Nicolas Fink.

Esslingen hat mit Herrn Bayraktar einen neuen Bürgermeister. Dabei sind die Gemeinderäte dem Vorschlag der Grünen gefolgt. Inwiefern erhoffen Sie sich eine stärkere Umsetzung grüner Politik auf kommunaler Ebene?
Herr Bayraktar ist erst mal ein Bürgermeister für Esslingen und für alle Menschen, die hier leben. Da hat die Parteizugehörigkeit keine Bedeutung. Besonders auf kommunaler Ebene ist grüne Politik lösungsorientiert und pragmatisch. Das Gleiche gilt für die Aufgaben der Verwaltung einer Stadt und somit auch für den neuen Bürgermeister. Qualitativ hochwertige Schulen, eine diverse und hochwertige kulturelle Landschaft, lebendige Sport- und Kulturvereine und eine Atmosphäre, in der man ohne Angst anders sein kann, gehören zur Grundlage unserer Stadtgesellschaft. Dafür steht grüne Politik.

Esslingen als Fahrradstadt – wie weit ist der Weg, und was ist in einer doch sehr stark aufs Auto orientierten Stadt wie Esslingen überhaupt möglich?
Besonders für viele junge Menschen, die in der Kernstadt wohnen, haben ein Führerschein und ein eigenes Auto nicht mehr erste Priorität. Mit dem kontinuierlichen ökologischen Ausbau des ÖPNV, zum Beispiel durch die Erweiterung der O-Bus-Strecken, sind wir auf einem guten Weg zu einer umweltverträglichen Verkehrswende. Zum Beispiel schaffen E-Bikes, mit Ökostrom betrieben, eine neue Mobilität, die vor wenigen Jahren in Esslingen noch nicht möglich war. Mobilität und Umweltverträglichkeit sind kein Widerspruch. Dabei muss Esslingen nicht gleich eine Fahrradstadt werden. Was wir brauchen, sind gute, attraktive und vor allem sichere Radwege für die Menschen in unserer Stadt – und daran arbeiten wir Grüne schon lang. Wir brauchen gerade jetzt in den Zeiten mit vielen notwendigen Baustellen gute Alternativen zum Auto, damit die Menschen einen Anreiz haben, es auch einmal stehen zu lassen. Deshalb ist es wichtig, dass die kombinierte Rad- und Busspur am östlichen Altstadtring, wie sie aktuell von einem breiten Bündnis in der Stadt gefordert wird, kommt. Radfahren in Städten wird überall zum Trend, und der Autoverkehr muss dafür Platz hergeben. Das passiert bereits in Esslingen und wird auch noch stärker kommen – und dafür setzen wir uns ein.

In diesem Jahr wird es Weichenstellungen geben, was die Innenstadt betrifft. Können Sie in wenigen Worten umreißen, wie es aus Ihrer Sicht in fünf Jahren in der Altstadt aussehen soll?
Wir arbeiten an einer lebendigen und attraktiven Innenstadt mit hohem Aufenthaltswert. Die Wirtschaftsförderung, City Initiative und das Stadtmarketing planen gemeinsam mit dem Einzelhandel schon an den Konzepten der Zukunft. Das ist gut so und wird von uns unterstützt. Die Bedeutung von öffentlichem Raum wird zunehmen. Wir wollen eine barrierefreie Innenstadt, die vor allem den Fußgängern gehört. Bäume, die Schatten werfen, und Wasserflächen und Brunnen, die kühlen, werden in Zukunft für das Stadtklima wichtig sein. Grün in der Stadt filtert die Schadstoffe aus der Luft, kühlt und schafft eine angenehme Aufenthaltsqualität auch in der Zukunft. Und die Innenstadt sollte mehr den Fußgängern zurückgegeben werden. Das Auto sollte also nach und nach aus der Altstadt verdrängt werden.

Es gibt einen großen Konflikt zwischen der Notsituation auf dem Wohnungsmarkt und den ökologischen Bedürfnissen beziehungsweise dem Wunsch nach weniger Bebauung und Verkehr vor der eigenen Haustür. Kann Esslingen überhaupt noch wachsen und wenn, wo?
Flächen in Esslingen sind in der Tat begrenzt. Wir wünschen uns eine innerstädtische Verdichtung, wo es städtebaulich möglich und verträglich ist. Vorhandene Bauflächen im Innenbereich müssen bebaut werden. Leerstände aus Gründen der Spekulation dürfen nicht länger akzeptiert werden. Wir wollen, wo immer es städtebaulich verträglich ist, ein Stockwerk draufsetzen, den Ausbau von Dachstühlen und Einliegerwohnungen ermöglichen und regen an, Parkplatzflächen und minderwertig genutzte Flächen für den Wohnungsbau zu nutzen. Mit dem Wohnraumversorgungskonzept, das in der Zwischenzeit auch für privates Bauen gilt, schaffen wir Wohnraum für Menschen mit kleinerem Geldbeutel. Das Verkehrsproblem lässt sich nur durch Verbesserungen der Angebote für ÖPNV, Radverkehr und den Ausbau von Fußgängerwegen lösen. Wir brauchen einen gut getakteten und verlässlichen ÖPNV als echte Alternative zum Auto. Dafür setzen wir uns ein.

Eine zweigeteilte persönliche Frage: Wenn Sie Zeit hätten, in Esslingen zu spazieren, wo würden Sie Ihre Runde am liebsten drehen? Was war Ihr schönstes Event in Esslingen 2019?
Neben meiner Berufstätigkeit bin ich Fraktionsvorsitzende. Mein Terminkalender ist daher sehr voll. Mir bleibt leider wenig freie Zeit für meine Familie, Freunde und mich selbst. Wenn ich spazieren gehe, dann zur Katharinenlinde. Da kann ich von zuhause zu Fuß hinlaufen. Die weite Sicht über das Neckartal und bis zur Schwäbischen Alb macht den Kopf frei und entspannt. Das Kino auf der Burg ist im Sommer mein Highlight. Wie viele andere Esslingerinnen und Esslinger versuche ich so oft wie möglich hinzugehen. Die Atmosphäre ist toll.

Das Interview führte Johannes M. Fischer.