Stuttgart: Eine ehrenamtliche Helferin hält in einem Hospiz die Hand einer Frau. Foto: dpa - dpa

„Hospizarbeit gehört in die Gesellschaft – wir sind alle füreinander verantwortlich“, sagt Susanne Kränzle, die Leiterin des Hospiz Esslingen und Teil des Organisationsteams.

EsslingenIm November 2017, also vor gut einem Jahr, fiel im Ertinger-Gemeindehaus der Startschuss für das außergewöhnliche Pilotprojekt „Letzte Fragen – Esslingen im Dialog“ des Hospiz’ Esslingen. Ziel des für ein Jahr angelegten Projekts war es, eine kommunale Sorgekultur in Esslingen auf den Weg zu bringen, bereits bestehende Elemente in dieser Richtung sichtbarer zu machen und verschiedene Netze miteinander zu verknüpfen. Ein Vorhaben, das geglückt ist, da sind sich die Organisatoren einig. Es soll daher auch nach der offiziellen Projektphase weitergehen. „Ein großes Dankeschön für die Organisation, wir konnten wichtige Erfahrungen sammeln“, sagt Dekan Bernd Weißenborn.

Waren bisher beinahe ausschließlich Institutionen für Hospizarbeit und Palliative Care zuständig, sollte durch das Projekt die gesamte Gesellschaft in die Verantwortung für ein gutes Leben und Sterben einbezogen werden. „Für ein gutes Lebensende sind nicht nur Profis verantwortlich, sondern jeder“, sagt Susanne Kränzle, die Leiterin des Hospiz’ Esslingen und Teil des Organisationsteams: „Hospizarbeit gehört in die Gesellschaft – wir sind alle füreinander verantwortlich.“

Sorge betrifft alle

Ein guter Umgang mit Sterben, Tod und Trauer beginne nicht erst, wenn das Hospiz ins Spiel komme. Menschen würden im Verlauf ihres Lebens immer wieder mit Tiefschlägen konfrontiert, die es dann zu bewältigen gelte. „Die Sorge betrifft daher alle – wir alle geben und brauchen Sorge, solange wir leben“, wie es in der veröffentlichten Projektbroschüre formuliert ist.

Für das Erreichen des Vorhabens war es daher unabdingbar, zu wissen, was die einzelnen Menschen bewegt, welche Sorgen sie in ihrem Alltag drücken und wo ihre persönlichen Bedürfnisse liegen. An dieser Stelle setzte das Projekt an und führte bereits bei der Auftaktveranstaltung Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zusammen.

„Von Mitarbeitern der Wohnsitzlosenhilfe, über Hochschulprofessoren bis hin zu Vertretern der Zivilgesellschaft – wir waren positiv überrascht, wie viele Menschen Interesse zeigten und gleichzeitig sehr froh, weil wir genau das erreichen wollten“, sagt Patrick Schuchter vom Institut für Palliative Care und Organisations-Ethik der Alpen-Adria Universität Graz, der das Projekt gemeinsam mit Professor Andreas Heller wissenschaftlich begleitete. Darüber hinaus waren Vertreter von Landkreis und Stadt, von den Kirchen und weiteren Pflegeeinrichtungen der Einladung der Organisatoren gefolgt. In Gruppen wurde über die Sorgekultur in Esslingen nachgedacht und bereits vorhandene Erfahrungen der Teilnehmer dokumentiert. „Wir kennen alle die formalisierte Sorge, die sich in den Sozialgesetzbüchern wiederfindet und in Esslingen toll ausgebaut ist. Aber wir wollten wissen, welche Formen von innergesellschaftlicher, nachbarschaftlicher Sorge gibt es außerdem“, erzählt Kränzle: „Außerdem hat uns interessiert, was sinnvoll miteinander vernetzt werden kann.“

Gutes Zuhören ist wichtig

In drei Workshops, sogenannten Moderationswerkstätten, bekamen die insgesamt 100 Teilnehmer Werkzeug mit an die Hand, um anschließend in ihrem jeweiligen Umfeld, egal ob privat oder beruflich, in kleinen Gruppen Sorge-Gespräche führen zu können. Dabei standen Erfahrungen mit Sorge – im Sinne von für jemanden sorgen, nicht besorgt sein – im Mittelpunkt. „Wir wollten wissen, wer wie schon mal Sorge gegeben oder bekommen hat“, sagt Kränzle. Dabei war vor allem das gute Zuhören ein wichtiger Aspekt.

Insgesamt wurden auf diesem Weg rund 160 Erzählungen aus den unterschiedlichsten Bereichen dokumentiert und ausgewertet. Erzählungen, die vielfältige Perspektiven von Bürgerinnen und Bürgern wiedergaben und dabei vieles sichtbar machten. „Eine Geschichte handelte von einer alten Dame, die in einem Wohngemeinschaftshaus erblindete und an das schwarze Brett einen Aushang mit der Frage ‚Möchte mir bitte jemand vorlesen?‘ hängte – daraus hat sich ein Vorlesekreis in diesem Haus entwickelt“, berichtet Schuchter von einer bewegenden Erzählung, die er besonders beeindruckend fand: „Dass man im Moment der Hilfsbedürftigkeit so aktiv Hilfe aufsucht, ist schon mal bemerkenswert. Aber, dass sich dann noch mehr daraus entwickelt, eine echte Gemeinschaft, ist sehr schön.“

Daran anschließend wurden aus den Geschichten wesentliche Fragen für eine sorgende Gemeinde Esslingen erarbeitet. Außerdem wurden Spielregeln für die Sorge-Gespräche aufgestellt, die als Orientierung für weitere Gespräche dienen und zu einer offenen und vertrauensvollen Gesprächsatmosphäre führen sollen. „Sorge passiert bisher viel im engen, privaten Kreis oder eben auf staatlicher Ebene, der Zwischenraum fehlt noch komplett“, sagt Schuchter. Dabei brauche es gar nicht viel: Ein Nachbarschaftsfest oder beim Nachbar darauf achten, ob der Rollladen hoch geht, zähle bereits als Sorge.