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Wenn’s auf der Leinwand furchterregend wird, klemmt sich Günter A. Buchwald seine Geige unters Kinn. Zum Abschluss der Krimitage hat er zu Hitchcocks Stummfilm „The Lodger“ gespielt.

EsslingenIch improvisiere meistens“, sagt er, setzt sich ans Klavier und legt los. 85 Minuten lang begleitet Günter A. Buchwald live Alfred Hitchcocks Stummfilm „The Lodger“. Wenn’s auf der Leinwand ganz besonders furchterregend wird, klemmt er sich zusätzlich seine Geige unters Kinn, führt mit der rechten Hand den Bogen und setzt mit der linken weiter am Klavier musikalische Akzente. Mit seinem grandiosen Auftritt gingen am Sonntag die vierten Krimitage „Kaltblütig“ des Kommunalen Kinos zu Ende.

Seit über 40 Jahren ist der Freiburger in Sachen Stummfilm-Musik als Komponist, als Dirigent und als Musiker – mit großen Orchestern ebenso wie im kleinen Ensemble und als Solist – auf der ganzen Welt unterwegs. In seinem Repertoire finden sich mehr als 3000 begleitete Stummfilme von deutschen Klassikern und sowjetischer Avantgarde über amerikanische Welthits und japanische Werke bis hin zu Experimentalstreifen. Der Mann an Klavier und Geige lässt das stumme Geschehen auf der Leinwand hörbar werden, schafft Atmosphäre, illustriert über die Musik und sorgt dafür, dass die humorvollen Szenen noch witziger, die Liebesszenen noch romantischer und die Schockszenen noch schrecklicher werden.

Der Rächer schlägt wieder zu

Günter Buchwald ist ein virtuoser Begleiter, der sich niemals in den Vordergrund drängt, sondern der sich ganz in den Dienst des Films stellt. Seine differenzierten Improvisationen sprühen vor musikalischen Einfällen. So variiert er gleich zu Beginn die Melodie der Turmuhr von Big Ben und versetzt das Publikum mitten hinein in diese „Geschichte im Londoner Nebel“: Basierend auf der Novelle „Jack the Ripper oder Der Untermieter“ erzählt Hitchcock von jenen sieben blonden Frauen, die grausam umgebracht wurden. Jedes Mal hinterlässt der Täter ein dreieckiges Zeichen: Der Rächer hat wieder zugeschlagen. Zu dieser Zeit bezieht bei Familie Bunting ein neuer Mieter sein Zimmer, schließt eine Tasche im Schreibtisch ein und lässt alle Porträts von blonden Mädchen abhängen. Die fröhliche Tochter Daisy wird zwar von dem auf den Serienmörder angesetzten Polizisten Tom umworben, fühlt sich aber zu dem geheimnisvollen Mieter hingezogen.

Alfred Hitchcock selbst hat später „The Lodger“ als „ersten richtigen Hitchcock-Film“ bezeichnet. In dem Stummfilm aus dem Jahr 1927 lässt sich vieles entdecken, was dem Regisseur später den Ehrentitel „Meister des Suspense“ einbrachte: Das Spannung erzeugende Spiel von Licht und Schatten, beeinflusst durch die Erzählweise der expressionistischen deutschen Filme der 20er-Jahre, die Hitchcock in Berlin kennenlernte. Die ungewöhnlichen Kameraeinstellungen, wenn der unruhig herumgehende Mieter von unten durch eine Glasscheibe gefilmt wird, wenn eine Hand fast körperlos auf dem Treppengeländer nach unten gleitet, oder wenn der Kopf eines Opfers von hinten beleuchtet wird, damit das blonde Haar leuchtet. Der Blick der Schauspieler direkt in die Kamera. Eine extreme Close-Up-Aufnahme beim ersten Kuss. Oder eine Neonreklame für die „Golden Curls”-Revue-Show, die makaber die blond gelockten Opfer zitiert.

Profunder Hitchcock-Kenner

Schon hier wird Hitchcocks Obsession für elegante, blonde Frauen deutlich – denen er in seinen Filmen wie im richtigen Leben huldigte. Und „The Lodger“ ist der erste seiner Filme, in denen der Regisseur höchstpersönlich auftritt – mit dem Rücken zur Kamera in einer Zeitungsredaktion am Telefon. Solche Cameo-Auftritte in seinen eigenen Filmen sollten später Hitchcocks Markenzeichen werden. Und Günter A. Buchwald, der sich als profunder Kenner von Hitchcocks Arbeiten entpuppte, wies darauf hin, dass bereits in diesem frühen Film viele typische Motive Hitchcocks auftauchen, die auch seine späteren Filme prägen: „Handschellen. Treppen. Kreuze als Schattenbilder. Ein unschuldig Verfolgter, eine dominante Mutter und ein fehlbarer, weil aus persönlichen Motiven handelnder Polizist. Das kommt bei Hitchcock immer und immer wieder vor.“