Foto: Lichtgut/Zweygart

Aus Platznot digitalisiert die Württembergische Landesbibliothek historische Zeitungsausgaben und wirft die papiernen Originale weg. Die Eßlinger Zeitung ist aber nicht betroffen.

Stuttgart/Esslingen - Martina Lüll, Vizechefin der Württembergischen Landesbibliothek (WLB) Stuttgart, hält einen Zeitungsband des Stuttgarter „Neuen Tagblatts“ in der Hand. Am Donnerstag, 1. Juli 1897, informierte der hisotrische Vorläufer der Stuttgarter Zeitung seine Leser über eine Debatte der württembergischen Abgeordnetenkammer über das Einkommensteuer-Gesetz, den Ausflug des Kaisers zur Krupp’schen Werft nach Kiel, den „bedeutungsvollen Wendepunkt“ der freiwilligen Feuerwehr Stuttgart zur Berufsfeuerwehr und den Gewitterregen vom Vortag. Schwarze Sütterlinschrift auf vergilbtem Zeitungspapier. Der Band lagert im Magazin der WLB und ist eines der wenigen Originale, die es von dieser Ausgabe noch gibt. Das zweite Original hat die WLB zum Digitalisieren an eine Firma nach Hannover gegeben, neben weiteren 300 Bänden des „Neuen Tagblatts“ aus den Jahren 1875 bis 1943. Ursprünglich war geplant, die Zeitdokumente nach der Digitalisierung zu entsorgen.

Dieses Ziel findet sich auch in der Antwort auf eine Landtagsanfrage des FDP-Abgeordneten Nico Weinmann vom 1. Februar 2017, der sich über die Aussonderung sogenannter Pflichtexemplare gewundert hatte. Demnach wolle die WLB „in den kommenden Jahren verstärkt Zeitungen digitalisieren, um im Bestandsgebäude bis zur Fertigstellung des Erweiterungsbaus Stellraumreserven für andere Neuzugänge zu schaffen“, schrieb Wissenschaftsministerin Theresia Bauer.

EZ bleibt in Papierform

Die Eßlinger Zeitung ist nicht betroffen. „Der Bestand ist für die Digitalisierung nicht relevant“, erklärt Lüll – sprich zu klein und darum auch von der Menge her kein Platzproblem. Ausgaben ab 1945 seien aus Urheberrechtsgründen von der Digitalisierung ausgenommen und die EZ ab 2010 ist in der WLB ohnehin nur als Mikrofilm zu lesen. „Der Bestand davor ist recht lückenhaft“, sagt Martina Lüll, Grund seien Kriegsverluste. In vergilbtem Papier findet man die Jahrgänge 1896 bis 1913, 1943 und 1944 sowie vereinzelte Ausgaben der Jahre 1945 und 1949. Erst danach ist die Sammlung vollständig.

Wer in alten Ausgaben der Eßlinger Zeitung und ihrer historischen Vorgänger recherchieren will, ist im Stadtarchiv Esslingen besser bedient. Wie viele Ausgaben der EZ ab 1868 am Georg-Christian-von-Kessler-Platz liegen, weiß nicht mal Archivleiter Joachim Halbekann. Es seien mehrere Regale voll. Die Digitalisierung ist hier noch nicht angekommen. „Wir denken darüber gerade intensiv nach“, sagt er aber. Aktuelle Ausgaben will man künftig eventuell nur noch in digitaler Form archivieren. Derweil beginnt bei den alten Zeitungen schon der Zerfall. Am schlimmsten sei es bei den mittleren Jahrgängen des 20. Jahrhunderts, so der Stadtarchivar. Sie zu restaurieren, steht nicht zur Debatte. Grundsätzlich habe man aber beschlossen, alle Zeitungen, die in Esslingen erschienen sind, vorzuhalten. „Zeitungen sind extrem wichtig“, erklärt Joachim Halbekann. Denn viele Lebensbereiche, etwa das Vereinsleben, seien durch anderes Archivgut nicht abgedeckt.

Der Historiker Wolfgang Kress, der auch in der Initiative Stolperstein aktiv ist, zeigt sich über dieWLB-Pläne entsetzt. Als er einen Originalband bestellen wollte, um über ein 200-Jahr-Jubiläum zu recherchieren, habe es geheißen, die Originalbände seien weder im Haus, noch kämen sie zurück, sondern sollten nach der Digitalisierung vernichtet werden. Er erinnert sich noch gut daran, wie er sich als Schüler in den 70er Jahren in den Lesesaal der Bibliothek gesetzt und es ihn fasziniert habe, in alten Zeitungen wie dem „Schwäbischen Merkur“ zu blättern. Zu blättern – und nicht am Bildschirm Digitalisate oder Mikrofilme anzuschauen, zumal Letztere oft von zweifelhafter Qualität seien.

„Man hat einen deutlichen Mehrwert“, meint dagegen WLB-Chef Hannsjörg Kowark. Eine Volltextsuche sei möglich. „Die laufenden Zeitungen verfilmen wir aufgrund der Platzprobleme schon seit 2001.“ Denn 70 000 neue, zusätzliche Medien pro Jahr bescherten der WLB ein großes Wachstum. Knapp die Hälfte davon seien Pflichtexemplare. 1998 hat das Wissenschaftsministerium Richtlinien zur Aussonderung erlassen, um das Magazinwachstum zu begrenzen – „im Einvernehmen mit den wissenschaftlichen Bibliotheken des Landes“, so ein Ministeriumssprecher. „Das Pflichtexemplar-Gesetz legt nicht fest, dass sämtliche abzuliefernden Pflichtexemplare dauerhaft im Original aufbewahrt werden müssen.“ Filme oder Digitalisate genügten.

Kowark berichtet, viele Bände habe man mangels Platzes in ein Magazin in Fellbach ausgelagert, etliche Fachblätter aus Naturwissenschaften, Technik, Medizin sowie Titel in seltenen Sprachen ausgesondert. 2016 habe man 20 000 Bände entsorgt – das seien fast 700 Meter im Magazin. Erst seit 2017 bekomme die WLB Geld für die Digitalisierung alter Zeitungen. „Die Inhalte muss ich bewahren, die Form bleibt uns überlassen“, so Kowark. Inzwischen hat die WLB es sich anders überlegt, will laut Lüll die 300 „Tagblatt“-Bände doch behalten und nur die lückenhaften Doppel an das Stadtarchiv abgeben, das Interesse gezeigt hat. Der Grund: weil das „Tagblatt“ „einen besonderen Charakter hat für die Stadt“.

Großsanierung der Landesbibliothek

Pflichtexemplare: Seit 1817 hat die Landesbibliothek die Pflicht, alles, was in Württemberg an Druckwerken erscheint, zu sammeln und zu archivieren. Dann kam auch Baden dazu, seit 1952 teilen sich die Landesbibliotheken in Stuttgart und Karlsruhe diese Pflicht. Alle Verleger in Baden-Württemberg müssen ein Exemplar ihrer Druckerzeugnisse kostenlos an die beiden Labis abliefern. Die WLB Stuttgart ist mit sechs Millionen Medieneinheiten die größte wissenschaftliche Bibliothek im Land.

Zeitungen: Neben den Pflichtzeitungen – 84 württembergische Tageszeitungen, darunter auch die Eßlinger Zeitung, die Stuttgarter Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten, sowie 112 württembergische Wochenzeitungen – hält die WLB Abos von rund 40 überregionalen Zeitungen aus Deutschland und aus dem Ausland. Täglich kommen 121 Zeitungen in die WLB. Sie bezieht 286 Zeitungstitel über Abos, weitere 62 Zeitungen im Jahr kommen als Mikrofilm ins Haus.

Historische Zeitungen: Die WLB Stuttgart hat 2454 Zeitungstitel bis zum Jahr 1950 gesammelt. Die Sammlung reicht in Einzelfällen bis ins 18. Jahrhundert zurück. In der Originalversion aufheben will sie die Exemplare des „Stuttgarter Tagblatts“, das ab 1843 erscheint. Vom Jahr 1908 an wird es unter dem Namen „Stuttgarter Neues Tagblatt“ im Stuttgarter Zeitungsverlag herausgegeben, im Frühling des Jahres 1943 wird es eingestellt.