Die nervige Warterei am Bahnübergang in Zell hatte 1967 ein Ende. Der damalige Bürgermeister Erich Kenner fuhr in seinem blank geputzten VW als Erster über die Brücke. Foto: Geschichtswerkstatt Zell - Geschichtswerkstatt Zell

Für das Forschungs- und Ausstellungsprojekt „Viele Teile, eine Stadt“ erforscht die Geschichtswerkstatt Zell die Historie der einst selbstständigen Gemeinde.

ES-ZellFließendes Wasser ist heute eine Selbstverständlichkeit. Anfang des 20. Jahrhunderts „ähnelten Bereiche des täglichen Lebens in Zell jedoch denen, die noch heute in einigen Gegenden Afrikas zum Alltag gehören“, haben Hans-Joachim Bosse und Dieter Volk herausgefunden. Sie sind Mitglieder der Geschichtswerkstatt Zell und erforschen gemeinsam mit Uwe Mäckle, Thomas Maier, Werner Barth, Manfred Maaß und Gerhard Beichter die Historie der einst selbstständigen Gemeinde. Die einen haben ihr gesamtes Leben in Zell verbracht, andere Geschichtsinteressierte sind irgendwann zugezogen. „Das ist eine sehr gute Mischung“, sagt der frühere Vorsitzende des Bürgerausschusses, Uwe Mäckle. Das findet auch Thomas Maier. Wie seine Mitstreiter würde er sich jedoch freuen, „wenn bei uns Jüngere und vor allem auch Frauen mitmachen würden“. Denn die Geschichtswerkstatt ist kein eingeschworener Männerzirkel. „Bei uns kann man jederzeit einsteigen.“

Zusammengefunden haben sich die Geschichtsinteressierten im Rahmen des Projekts „Viele Teile, eine Stadt“ als sogenannte Stadtgefährten. Mit dem Vorhaben, das unter anderem durch die Kulturstiftung des Bundes gefördert wird, wollen die Städtischen Museen die Bürgerinnen und Bürger aller Esslinger Stadtteile ermuntern, der Ortsgeschichte nachzuspüren. Münden soll das von Julia Opitz geleitete Projekt, im Zuge dessen sich in fast allen Esslinger Stadtteilen Geschichtsinteressierte auf den Weg gemacht haben, in einer großen Ausstellung im Stadtmuseum. Falls alles klappt, soll es auch in den jeweiligen Stadtteilen kleine Ausstellungen geben. Für die Zeller Geschichtswerkstatt ist mit der Ausstellung aber nicht Schluss. „Wir machen auf jeden Fall weiter“, sagt Werner Barth.

Bei null anfangen mussten die Geschichtsfans nicht. Denn es gibt bereits das „Heimatbuch der Gemeinde Zell am Neckar“, geschrieben vom einstigen Schulleiter Ernst Goll. „Das Buch endet aber im Jahr 1970. Damals war Zell ja noch selbstständig“, erklärt Werner Barth. Ursprünglich wollten die Stadtgefährten das Heimatbuch lediglich fortschreiben und dabei natürlich auch den von vielen als schmerzhaft empfundenen Prozess der 1974 vollzogenen Eingemeindung genauer beleuchten.

„Wir haben dann aber im Heimatbuch einige Leerstellen entdeckt, zum Beispiel, wie man früher seine Freizeit verbracht hat. Und die wollen wir mit unserer Arbeit füllen.“ Als Kritik am Zeller Heimatbuch möchten die Stadtgefährten das nicht verstanden wissen. „Heute schaut man einfach anders auf die Geschichte“, sagt Werner Barth. „Da spielen die Menschen, und wie sie gelebt haben, eine viel größere Rolle.“ So geht es den Geschichtsfans nicht nur um historische Daten und Fakten. Sie erforschen auch Alltägliches – von der Lebensmittelversorgung über die Bedeutung der Automobilwirtschaft für den Ort bis hin zum „verschwundenen Bach“ und einer kleinen „Wirtschafts-Kunde“. Natürlich fehlt auch die Gemeindereform und Eingemeindung nicht.

Um Geschichten aus dem Alltag zu sammeln, haben sich die Stadtgefährten auf die Suche nach Frauen und Männern gemacht, die noch was erzählen können. „Die Zeitzeugen werden ja immer weniger“, erklärt Hans-Joachim Bosse. „Deshalb muss man jetzt mit ihnen reden.“ Bei den Gesprächen über die Badekultur haben er und Dieter Volk erfahren, dass die Schlepperei des Wassers, meist eine Frauenarbeit war, die erst im Jahr 1908 mit der Verlegung der ersten Wasserleitungen im Ort ein Ende hatte. Bis aber in allen Haushalten auch warmes Wasser aus dem Hahn floss und man in den eigenen vier Wänden baden oder duschen konnte, sollte noch viel Wasser den Neckar hinunter fließen. Im Sommer wurde in dem seit der Kanalisierung in ein Betonkorsett gezwängten Fluss gebadet. „Der erste Badeplatz lag noch am alten Neckar hinter der damaligen Neckarstraße, die seit der Eingemeindung Robert-Koch-Straße heißt“, haben die beiden Geschichtsforscher herausgefunden. In Zell gab es ursprünglich sogar zwei Badeplätze. Denn entsprechend den damaligen sittlichen Gepflogenheiten stieg man getrennt nach Geschlechtern in die Fluten. „Später badete dann im entstehenden Neckarkanal alles durcheinander.“

Macht man sich heute auf zwei oder vier Rädern vom Ortskern aus auf den Weg Richtung Süden, sind die Bahngleise kein Hindernis mehr. Wer früher von der einen auf die andere Seite wollte, musste sich vor allem zur Hauptverkehrszeit in Geduld üben. Passierte ein Zug den Ort, der seit 1913 mit einem eigenen Bahnhof an den Rest der Welt angeschlossen ist, versperrten Schranken die Weiterfahrt. Erst 1967 hatte die nervige Warterei mit dem Brückenschlag über die Gleise ein Ende. Als Erster fuhr der damalige Bürgermeister Erich Kenner in seinem roten, blitzblank polierten VW über die Brücke. Zwei Jahre später läutete dann für das alte Zeller Bahnhofsgebäude das Totenglöckchen.

Bei ihrer historischen Spurensuche sind die Stadtgefährten auch auf Menschen gestoßen, die ihren Heimatort verlassen mussten. „Es wird gerne vergessen, dass Deutschland im 18. und 19. das Land war, aus dem die Menschen auswanderten, weil sie bitterarm waren“, sagt Hans-Joachim Bosse. Im Jahr 1817 nahmen allein 23 Zeller Familien aus wirtschaftlichen Gründen Abschied aus ihrem Heimatdorf. „Das war im Grunde nichts anderes als eine Flucht“, sagt Werner Barth. „Flucht ist also nichts Neues.“ Wie es all jenen ergangen ist, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Vertriebene, in den Wirtschaftswunderjahren als „Gastarbeiter“ oder in jüngster Zeit als Bürgerkriegsflüchtlinge nach Zell gekommen sind, das erzählen die Mitglieder der Geschichtswerkstatt unter der Überschrift „Fluchtgeschichten“.

Empfang: Beim Neubürger- und Neujahrsempfang, zu dem der Bürgerausschuss und der Förderverein Zell am Sonntag, 2. Februar, einladen, kann man Mitglieder der Geschichtswerkstatt kennenlernen und erfährt, was die historisch interessierten Stadtgefährten bisher schon so alles ausgegraben haben. Der Empfang beginnt um 11.30 Uhr im Bürger- und Vereinshaus Zell in der Alleenstraße 1. Gäste sind dort bereits von 11 Uhr an willkommen.

Kontakt: Mit den Mitgliedern der Geschichtswerkstatt Zell kann man auch per E-Mail Kontakt bekommen: geschichtswerkstatt@zell-am-neckar.de. Zudem berichtet die Geschichtswerkstatt auf der Homepage des Bürgerausschusses über ihre Arbeit: www.zell-am-neckar.de/geschichtswerkstatt-zell/. Der Online-Auftritt der engagierten Geschichtsforscher bietet nicht nur jede Menge Lesestoff, sondern auch viele historische Fotos aus Zell.