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Katzenjammer statt kollektivem Jubel: Rund 2000 Fans sehen beim Public Viewing von Hahn Audi Esslingen das WM-Auftaktspiel der deutschen Mannschaft – und sind fassungslos.

OberesslingenEine halbe Stunde vor Anpfiff taucht tatsächlich der WM-Pokal im Oberesslinger Industriegebiet auf. Mitgebracht hat ihn Leon Gschwendtner, der ihn aus einem Regenschirm und Fensterschaum gebastelt hatte. Ein Kochtopf und ein Gymnastikball rundeten das Werk ab. „Dieser Pokal hat uns bereits 2014 Glück gebracht“, erklärt Gschwendtner. Zusätzlich trägt er eine Deutschland-Perücke. Gemeinsam mit Freunden will er den deutschen WM-Auftakt gegen Mexiko beim Public Viewing bei Hahn Audi Esslingen in der EZ WM-Arena verfolgen. „Deutschland wird heute 2:1 gewinnen“, gibt er sich mit seiner Gruppe optimistisch. Zum ersten Mal findet Public Viewing auf dem Gelände nahe des Oberesslinger Bahnhofs statt: inklusive Bratwurst und Bier. „Wir liegen ein bisschen weit weg von der Innenstadt, deshalb ließen wir uns etwas einfallen“, sagt Dennis Stelzer vom Autohaus. Denn das Gelände verfüge über eine optimale Infrastruktur. Also stellten sie kurzerhand eine sieben mal vier Meter große Leinwand auf. Um das Gelände WM-reif zu machen, musste ein Aufbauteam drei Tage arbeiten. Bis zu 4000 Zuschauer könnten hier bei deutschen Spielen mitfiebern

Beim Auftakt gegen Mexiko sind es immerhin knapp 2000 – und die kamen aus der gesamten Region. Nach einem Tipp seines Arbeitskollegen fand beispielsweise Bohee Leee den Weg aus Stuttgart nach Oberesslingen. „Das ist wirklich eine stimmungsvolle Atmosphäre hier“, stellt Lee fest. Und auch fachlich hatte er sich vorbereitet. „Alle Experten sagen, dass Deutschland die beste Mannschaft hat.“ Ganz ohne Superstars. Um das Spektakel gemütlich genießen zu können, hatte er für sich und seine Familie Campingstühle mitgebracht. Weniger euphorisch wirken dagegen die Neunjährigen Marvin und Alexander. Sie hatten sich vor allem mit Panini-Sammelbildchen auf das Turnier vorbereitet. Und mussten feststellen, dass Emre Can, Mario Götze oder Leroy Sané nur auf den Stickern zu finden waren. „Diesmal wird Brasilien oder Frankreich den Titel holen“, vermutet Marvin. Denn diese Teams hätten „einfach die besseren Spieler“. Gegen Mexiko werde es aber trotzdem klappen. Stilsicher ist Martin Haug beim WM-Auftakt unterwegs. Zufällig trägt er ein grünes Trikot von Marvin Plattenhardt, der kurzfristig den erkrankten Jonas Hector vertritt. Haug setzt vor allem auf die Spieler mit Wurzeln in der Region. „Vielleicht schießt Plattenhardt sogar ein Tor beim WM-Debüt“, hofft er.

Schon in der Anfangsphase schlagen die Fans aber die Hände über dem Kopf zusammen. Und nach dem mexikanischen Treffer von Lozano zeigt sich kollektives Kopfschütteln. „Der Reus muss sofort rein, und der Özil runter“, fordert nicht nur Reinhold Berg, der seinen Deutschland-Hut zurechtrückt. Es sei doch offensichtlich, dass Özil nach der Erdogan-Affäre mit dem Kopf nicht auf dem Platz sei. „Eigentlich sollte man gleich die halbe Mannschaft auswechseln“, ruft ein anderer. Während die deutsche Mannschaft die Bälle verstolpert, streikt gleichzeitig die Video-Übertragung auf der Leinwand. „Wir hatten Probleme mit dem TV-Empfänger, die aber behoben sind“, klärt Veranstalter Frank Ockert in der Halbzeit auf. Bei einer Premiere könne eben nicht alles rundlaufen. In der zweiten Hälfte funktioniert dann aber nicht nur die Technik, sondern auch der Anschlusstreffer liegt in der Luft. Vereinzeltes Klatschen gibt es, als Löw schließlich Reus für Khedira einwechselt. „Mit Reus ist definitiv mehr Schwung ins deutsche Spiel gekommen“, meint Nicole Nagy. Insgesamt wirke Mexiko aber „schneller, motivierter und fitter“. Und somit habe am Ende das bessere Team gewonnen, sagt sie nach Abpfiff.

„Abwehr muss besser werden“
Unter den lauten Klängen von DJ Ötzis „Sweet Caroline“ verlassen die ersten Besucher fluchtartig den Autohof. Andere diskutieren lieber über die Konsequenzen. „Die Abwehr um Hummels und Boateng muss deutlich besser werden”, sagt Kathrin Schwämmle. Ihr Begleiter sieht dagegen eine andere Baustelle: „Der Sturm mit Werner war heute ein Totalausfall“, kritisiert Andreas Ebert. „Wenn wir mit dieser Taktik weiterspielen, wird Schweden uns knacken.“

Ein noch dunkleres Fazit zieht Mimo Vannacci: „Ganz ehrlich“, sagt er, „keiner kann sich wünschen, dass eine solche Mannschaft Weltmeister wird.“ Obwohl er als Friseur viele Haare in Schwarz-Rot-Gold färbte, „hat alles nichts geholfen“. Die meisten vermuten aber eine mentale Blockade. „Es ist immer schwer, sich gegen vermeintlich schwächere Gegner zu motivieren“, sagt Luca Mochles. Er selbst kenne das als Spieler des ASV Aichwald. Es sei die Aufgabe von Löw, jetzt den richtigen Ton zu treffen. Und Leon Gschwendtner gibt die Hoffnung nicht auf. „Gegen Schweden sind wir natürlich beim Public Viewing dabei.“ Dann rückt auch der WM-Pokal zumindest für Oberesslingen wieder in greifbare Nähe.