Rund 20 schwarz gekleidete Darsteller liehen den vergessenen Esslinger Juden ihre Stimme Foto: Petra Weber-Obrock - Petra Weber-Obrock

Die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau jährt sich zum 75. Mal. In diesem Jahr lag die Gestaltung der Gedenkstunde Esslingens in der Verantwortung der jungen Generation.

EsslingenIn diesem Jahr jährt sich die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau zum 75. Mal. Als die Soldaten der Roten Armee am 27.1.1945 die Tore öffneten, bot sich ihnen ein Bild des Grauens. Menschen, abgemagert zu Skeletten, taumelten ihnen entgegen, drinnen erwarteten sie Berge von Leichen. Sechs Millionen Juden und zahllose weitere Opfer, Sinti und Roma, Menschen mit Handicap, Homosexuelle und Andersdenkende, fielen dem Terror des Naziregimes zum Opfer. Eingesetzt vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, erinnert seit 1996 der „Tag des Gedenkens“ an die Opfer des Nationalsozialismus.

In diesem Jahr lag die Gestaltung der Gedenkstunde der Stadt zum ersten Mal in der Verantwortung der jungen Generation. Unter dem Motto „Wir sind Juden aus Esslingen“ schilderten Schülerinnen und Schüler der 9. und 11. Klassen des Georgii-Gymnasiums die Situation der jüdischen Mitbürger zur Zeit des Terrorregimes. Neben der Stadtverwaltung und den beiden christlichen Kirchen hatten das Evangelische Bildungswerk, die Katholische Erwachsenenbildung und der Verein DenkZeichen zu der Veranstaltung im Gemeindehaus am Blarerplatz eingeladen. Besinnlich umrahmt wurde sie vom Jungen Gitarrenensemble Esslingen. Nach der Begrüßung durch Markus Geiger vom Evangelischen Bildungswerk mahnten Oberbürgermeister Jürgen Zieger und Stefan Möhler, der leitende Pfarrer der katholischen Gesamtkirchengemeinde, zur Wachsamkeit. „Mit Auschwitz wurden auch wir Deutschen befreit“, sagte Jürgen Zieger und forderte die Übernahme von Verantwortung gegen zunehmende autoritäre Tendenzen in der Gesellschaft. Als positives Signal wertete er die wieder erstarkte jüdische Gemeinde in Esslingen. „Menschen dürfen nicht nur als Problemfälle betrachtet werden“, sagte Stefan Möhler. Ein Blickwechsel hin zu einer Wahrnehmung der Würde aller Benachteiligten sei notwendig.

Nach den Grußworten lieferten die Schülerinnen und Schüler eine starke Performance ab, indem sie das Ungeheuerliche in Worte fassten. Betreut wurde das Projekt durch die Lehrer Benjamin Schnell und Martin Schalhorn, die damit eine Idee ihres pensionierten Kollegen Ernst Kühnle aufgriffen. Rund 20 schwarz gekleidete Darsteller liehen den vergessenen Esslinger Juden ihre Stimme, die durch eine perfide Strategie zwischen 1933 und 1945 systematisch entwürdigt, verleumdet, enteignet und schließlich deportiert wurden. Zu wenige Nachbarn setzten sich für sie ein. Heute noch beschämend ist, dass der SA und den Gruppen beteiligter Bürger nicht Einhalt geboten wurde, die am 10. November 1938 plündernd im israelitischen Waisenhauses und in der Synagoge einfielen. Auch Mitschülerinnen von Angehörigen der heutigen Gymnasiasten waren auch betroffen. Marta Goldschmidt etwa musste das Georgii-Gymnasium in den 30er-Jahren verlassen. Ihre Gefühle vertraute sie ihrem Tagebuch an, aus dem Milena Trapani und Jule Hartmann in einem fiktiven Gespräch zitierten. Ein Reigen schwarzgekleideter Gestalten umrahmte die Geschichte der Familie Liebel mit lautem Stiefelgetrampel. Das Leben durchkreuzt, die Grundlage zerstört – die Liebels mussten sich dem Verlust der Staatsbürgerschaft stellen. In der Gesprächsrunde „Historische Streiflichter“ referierten die Schüler über die Umsetzung der Nürnberger Gesetze in Esslingen, die Nichtariern das Bleiben erschwerten. Erschreckend war, dass auch die Eßlinger Zeitung, seit 1933 gleichgeschaltet, zum Boykott jüdischer Geschäfte aufforderte.

Die fiktive Erzählung „Ein Gang durch die Stadt“, die Milena Patzartis ausdrucksvoll vortrug, fasste die Lebenswirklichkeit eines jungen Juden beklemmend zusammen. Felix Haug hatte aus der Geschichte des israelitischen Waisenhauses „Wilhelmspflege“ einen spannenden Film gemacht. Zitate aus einem Brief Martha Oppenheimers sprachen von ihrer Verzweiflung. Hoffnungsvoll im Zeichen vergangenen Grauens fiel indessen der abschließende Blick auf die Nachkriegssituation in Esslingen aus. Zum Abschluss riefen die Lehrer Benjamin Schnell und Martin Schalhorn dazu auf, die Geschichten weiter zu erzählen. „Mit dem Herzen“, sagte Benjamin Schnell. „Der Kopf reicht nicht.“