Beim Gerber bewundern die Neuhausener Viertklässler die herrlich flauschigen Tierfelle und erraten Dachs, Fuchs und Kaninchen. Foto: Weiß - Weiß

Esslingen hat die Uhr zurückgestellt und zwar um 1000 Jahre. Gelandet ist die Stadt im Mittelalter mit seinen gewandeten, Althochdeutsch sprechenden Handwerkern. Für Kinder gibt es extra eine Führung durch die fremde Welt.

EsslingenWer ist denn dieser Herr mit dem bunten Wams, dem schwarzen Wollumhang, dicken gestrickten Strümpfen, einer Kappe mit langer Feder und einem Respekt gebietenden Stab? Der ungewöhnlich gewandete Mann, der die Viertklässler der Mörike-Grundschule Neuhausen zur Führung über den Mittelaltermarkt abholt, erklärt seine Aufgabe selbst: Als Herold ist er im Mittelalter offizieller Bote zum Beispiel des Königs, notiert die neu erlassenen Gesetze und verliest sie dann laut für das einfache Volk, das damals weder lesen noch schreiben konnte: „Hört! Hört!“ In dem bunten Gewand mit den drei Eulen steckt Klaus Eberhardt, einer der Führer, die in diesen Tagen in überaus beliebten Touren Schulklassen über den Mittelaltermarkt führen.

Dass Klaus Eberhardt mit ganz viel Spaß bei der Sache ist, merkt man daran, mit wie viel Begeisterung er sein Wissen in wohl dosierten Häppchen und in kindgerechter Sprache anschaulich und lebendig vermittelt, wie ernsthaft er auf die Fragen der Kinder eingeht und wie fröhlich er sich auf die Neckereien der Kids einlässt. Aber der Oberesslinger, der als Airbrush-Designer und Illustrator den Künstlernamen Kadée führt, hat auch ein ernsthaftes Anliegen: „Das Wissen um diese Zeit fehlt bei den heutigen Kindern häufig. Das möchte ich vermitteln, damit sie ein wenig Verständnis dafür bekommen, wie anders und wie beschwerlich das Leben damals war. Es ist wichtig, dem Nachwuchs einen Einblick in die Basis der vorindustriellen Welt zu geben – gerade in unserer mehr und mehr digitalisierten Welt. Das hilft, viele Dinge der heutigen Zeit besser zu verstehen.“

Klaus Eberhardt ist bestens informiert und blendend vorbereitet, wenn er über mittelalterliche Sitten und Gebräuche erzählt und die Kinder zum Besuch bei den Markt-Handwerkern mitnimmt. Ganz nebenbei erklärt er, dass das Mittelalter nach dem Ende der Völkerwanderung etwa ab 500 nach Christus begann, insgesamt rund 1000 Jahre dauerte und um 1500 zu Ende ging. Mit der Entdeckung Amerikas und der Erfindung von Schießpulver, Schusswaffen und Buchdruck wurde damals der Beginn eines neuen Zeitalters eingeläutet.

Von den Kindern freundlich mit „Seid gegrüßet“ angesprochen, erläutern die Schausteller ihre alten Handwerkskünste bereitwillig: Die Zinngießerin erklärt, dass zum Glockengießen Zinn mit Kupfer zu Bronze zusammengeschmolzen werden muss, damit die Glocken auch klingen, und gießt den Kindern einen kleinen Glücksbringer fürs Klassenzimmer als Erinnerung. Interessiert hören die Grundschüler von gefilzten Röcken, an denen Regen einfach abperlt, und davon, dass in den armen, kinderreichen Familien die Hemden nacheinander von den Geschwistern aufgetragen werden mussten. In der Faden-Werkstatt zeigt Susanne Marx alias Suma, wie mühsam es ist, mit einer Handspindel aus Rohwolle einen Faden zu spinnen. Mit offenen Mündern bestaunen die Viertklässler eine „Trippe“, eine Art Holz-Überschuh, den die feinen Damen für den Gang über den Markt mit Lederriemen als Schutz unter ihre normalen Schuhe schnallten. „Daher stammt der Ausdruck ‚mit Trippelschritten‘ gehen“, erklärt Klaus Eberhardt. Beim Gerber bewundern die Neuhausener Viertklässler die flauschigen Tierfelle und erraten Dachs, Fuchs und Kaninchen. Gebannt verfolgen sie die Arbeit von Schmied Reimir und seinem Gehilfen, die das rot glühende Metall mit wuchtigen Hammerschlägen auf dem Ambos in Form bringen, um Hufeisen, Äxte, Beile, Zangen, Türbeschläge und Schlösser, aber auch Haken, Nägel und Nadeln herzustellen. Kaum glauben wollen die Kinder, dass im Mittelalter die Buben schon mit sieben Jahren zu einem Schmied zum Arbeiten kamen, um den Blasebalg zu bedienen und vielleicht später irgendwann dieses Handwerk dann selbst zu erlernen.

Die aufgeweckten Jungen und Mädchen fragen Klaus Eberhardt Löcher in den Bauch. Andy Kingl, der die kostenlosen Schulklassen-Führungen für die Esslinger Stadtmarketing GmbH organisiert und als Wikinger Ragnar unterwegs ist, weiß aus Erfahrung: „Wenn wir auf eine Frage mal wirklich keine Antwort wissen, dann machen wir uns kundig, und im nächsten Jahr wissen wir dann wieder ein bisschen mehr übers Mittelalter und seine Menschen.“ Mit einem vielstimmigen „Gehabt Euch wohl“ verabschieden sich die Kinder von den Handwerkern, um sich am Ende der Tour mit einer Tasse Kakao zu stärken. „Den hat Hernán Cortés aber erst 1530, also nach dem Mittelalter, aus Amerika nach Europa mitgebracht“, gibt Klaus Eberhardt ihnen noch eine letzte Information mit auf den Heimweg.