Der Esslinger Onkologe Professor Thorsten Kühn (Zweiter von links) operiert mit seinem Team in der Klinik in Gonder und vermittelt seinen Kollegen moderne Techniken. Foto: oh - oh

Während sich die Heilungsaussichten bei Krebserkrankungen hierzulande erheblich verbessert haben, fehlt es in vielen afrikanischen Ländern noch am Know-how und der Ausstattung.

EsslingenDie Diagnose ist klar: Während sich die Heilungsraten bei gynäkologischen Krebserkrankungen in Deutschland dank Vorsorgeuntersuchungen und modernsten Therapiemöglichkeiten deutlich verbessert haben, werden Tumore in Äthiopien oft erst in weit fortgeschrittenem Stadium erkannt und können dann meist nur sehr eingeschränkt behandelt werden. Noch vor wenigen Jahren gab es in Äthiopien keinen einzigen Arzt mit einer Spezialisierung auf gynäkologische Onkologie. Deshalb sind Impulse aus dem Ausland umso wichtiger. Ein interdisziplinäres Ärzteteam des Klinikums Esslingen mit dem gynäkologischen Onkologen und Chefarzt der Esslinger Gynäkologie, Professor Thorsten Kühn, dem Strahlentherapeuten Privatdozent Dirk Bottke sowie dem Pathologen Professor Jörn Sträter reiste für eine Woche nach Äthiopien. Mit ihrem ehrenamtlichen Einsatz wollten die Mediziner helfen, die Behandlung äthiopischer Frauen mit gynäkologischen Krebserkrankungen zu verbessern und ihre Überlebens-Chancen zu erhöhen.

Angeregt durch einen äthiopischen Kollegen, der vor fünf Jahren am städtischen Klinikum hospitiert hatte, reist Professor Thorsten Kühn regelmäßig in das ostafrikanische Land, um an zwei Universitätskliniken in der Hauptstadt Addis Abeba sowie einem Universitätskrankenhaus in Gonder ehrenamtlich Ärzte in modernen Operationstechniken zu unterrichten und ihr Verständnis für onkologische Zusammenhänge zu schulen. In dem ostafrikanischen Land mit 105 Millionen Einwohnern kommen auf einen Arzt statistisch mehr als 42 000 Patienten und auf 1000 Einwohner 6,3 Krankenhausbetten. Unter solchen Vorzeichen bedeutet die Diagnose „Krebs“ für die meisten Frauen vor allem in ländlichen Gebieten keine Hoffnung auf Genesung. Häufigste Krebsart bei Frauen ist mit rund 70 000 Neuerkrankungen jährlich der Gebärmutterhalskrebs, der hierzulande dank Vorsorge und Impfung nur noch selten auftritt. Brustkrebs nimmt bei äthiopischen Frauen ebenfalls stetig zu.

Unter dem Dach der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie (AGO) hat Kühn mit weiteren deutschen Ärzten ein zweijähriges Fortbildungsprogramm für äthiopische Mediziner ins Leben gerufen – sechs der äthiopischen Kolleginnen und Kollegen wurden bereits als gynäkologische Onkologen zertifiziert. Der Äthiopien-Einsatz des Esslinger Ärzteteams, das vor Ort durch weitere Spezialisten aus Deutschland unterstützt wurde, begann mit einer kleinen medizinischen Tagung für die äthiopischen Kollegen. Neben dem Operieren lag der Schwerpunkt bei begleitenden medizinischen Disziplinen, die für die Beurteilung und Behandlung einer Tumorerkrankung von Bedeutung sind. Mit dem Leiter der Strahlentherapie des Klinikums Esslingen, Privatdozent Dirk Bottke, sowie dem Pathologen Professor Jörn Sträter standen zwei Experten des Esslinger Onkologischen Tumorzentrums für den Gedankenaustausch bereit.

Hierzulande sind interdisziplinäre Tumorkonferenzen für die umfassende Beurteilung einer Tumorerkrankung und ihrer Behandlung längst eine Selbstverständlichkeit – am St. Paul’s Millennium Hospital in Addis Abeba und am Universitätsklinikum in Gonder fanden sie nun zum ersten Mal statt. Für Kühn ein Meilenstein: „Konferenzen und Fallbesprechungen dieser Art verbessern die Therapie-Entscheidungen erheblich und bringen somit bei geringem Aufwand einen großen Nutzen. Denn Onkologie bedeutet weit mehr als gut zu operieren.“ Professor Jörn Sträter beriet die äthiopischen Kollegen derweil über Möglichkeiten zum Ausbau der eigenen pathologischen Abteilung, denn die Eigenschaften eines Tumors anhand einer Gewebeprobe zu ermitteln, trage entscheidend zur erfolgreichen Behandlung bei.

Die Rahmenbedingungen für strahlentherapeutische Maßnahmen in Äthiopien lotete Privatdozent Dirk Bottke mit seinen Kollegen aus. Bisher gebe es nur in Addis Abeba die Möglichkeit zur Bestrahlung, und das mit veralteten Geräten und einer Wartezeit von bis zu einem Jahr. Ziel müsse es sein, gemeinsam nach Lösungen zu suchen, die dauerhaft aufrecht erhalten werden können. Denn auch ein gespendetes komplexes Gerät nutze vor Ort wenig, wenn nicht eine angemessene Schulung des Personals und die Wartung gesichert werden könnten. Sonst müssten andere Lösungen gesucht werden. Die hierzulande von den Krankenkassen bezahlte Chemotherapie muss in Äthiopien selbst finanziert werden. Während die Kosten für eine Chemotherapie bei Gebärmutterhalskrebs meist noch erschwinglich sind, sind die Kosten einer Chemotherapie bei Brustkrebs für Patientinnen mit niedrigem Einkommen kaum tragbar. Während Kühn bei früheren Äthiopien-Einsätzen wegen der großen Dringlichkeit nur Unterbauchtumore operiert und die entsprechenden OP-Techniken geschult hatte, standen diesmal auch Brustkrebs-Operationen auf dem Programm. Mit einer besseren medikamentösen Therapie in einer sorgfältig abgestimmten Kombination mit Operation und Bestrahlung soll es künftig auch in Äthiopien möglich werden, weniger radikal zu operieren, ohne die Sicherheit zu gefährden.

Wichtig ist den Ärzten aus Esslingen, die vermittelten diagnostischen und therapeutischen Lösungen an die Möglichkeiten des Landes anzupassen, um langfristig und verlässlich den medizinischen Standard zu verbessern. So geben die zertifizierten äthiopischen Ärzte ihr Wissen und Können an ihre einheimischen Kollegen weiter und arbeiten daran, dieses Know-how über die Grenzen der großen Städte hinaus auch in die Peripherie des Landes zu tragen. Mit diesem „Schneeballsystem“ soll medizinische Hilfe auch dann sichergestellt werden, wenn die deutschen Spezialisten wieder abgereist sind. Die Esslinger Mediziner zeigten sich sehr beeindruckt und bereichert von den Begegnungen und dem Austausch mit den äthiopischen Kolleginnen und Kollegen. Die nächsten vier äthiopischen Ausbildungs-Kandidatinnen und -Kandidaten stehen bereits fest und werden im Sommer 2020 im Klinikum Esslingen erwartet. adi