Beim Talk beweist der Linken-Politiker Gregor Gysi Redegewandtheit und Schlagfertigkeit. Foto: Gaby Weiß - Gaby Weiß

Er zählt über Parteigrenzen hinweg zu den beliebtesten Politikern. Beim Econvent gibt Gregor Gysi etwa zwei Stunden lang Einblicke in seine Gedankenwelt.

EsslingenIch bedauere es sehr, dass man in der Politik immer erst ein schlimmes Ereignis braucht, um handeln zu dürfen. Wir reagieren „immer erst, wenn etwas passiert ist“ – vehement plädiert Gregor Gysi (Die Linke ) beim Talk im Econvent für eine vorbeugende, vorausschauende Politik. Der Bundestagsabgeordnete besticht im bis auf den letzten Platz besetzten Saal mit tiefgründigen Gedanken, prägnanten Diagnosen zur aktuellen Politik, seiner Beurteilung der Wiedervereinigung und ihrer Folgen und mit jeder Menge humorvoller Schnurren.

Der promovierte Jurist redet fast zwei Stunden lang ohne Punkt und Komma, ist eloquent und schlagfertig, originell und witzig. „Das muss ich Ihnen erzählen“ – mit diesen Worten leitet er Anekdote um Anekdote ein: Als ihm der Orden wider den tierischen Ernst verliehen wurde, wusste er nicht, dass sämtliche Ritter sich duzen. Nur wenige Minuten nach der Auszeichnung habe sich der CDU-Politiker Friedrich Merz, ebenfalls mit Ritterehren geschlagen, duzend an ihn gewandt: „Und dabei hatten wir uns vorher aber so was von gesiezt.“ Oder die Geschichte vom Starkbieranstich auf dem Münchner Nockherberg, wo Gysi erst nach drei Maß aufging, dass er der einzige Politiker war, der tatsächlich Bier getrunken hatte: „Die anderen hatten sich wer weiß was in ihre Krüge einfüllen lassen. Mensch, da war ich locker“, feixt Gysi, der wie alle Gäste des Talks auf ein Honorar verzichtet und die Einnahmen aus der Veranstaltung an einen sozialen Zweck, in diesem Fall ein SOS Kinderdorf, spendet.

Neben Histörchen kommt im Gespräch mit Moderator Alexander Maier aber auch die präzise politische Analyse nicht zu kurz: Schnell streift der Linken-Politiker die Flüchtlingsthematik, flugs schwenkt er zu Weltpolitik und Weltwirtschaft und bedauert, dass Deutschland es versäumt habe, Stärke und Selbstbewusstsein zu zeigen und deshalb keine herausragende globale Rolle mehr spiele. Ebenso treffsicher wie lakonisch charakterisiert er Angela Merkel, Greta Thunberg oder Donald Trump – „ein großgewordener Junge mit Minderwertigkeitskomplexen und allerdings sehr viel Macht in seinen Händen“. Nachdrücklich fordert er seine Partei zu einer konsequenten Aufarbeitung der eigenen Geschichte auf, spricht klare Worte zu Pflegenotstand, Heimatgefühl und AfD-Wählern: „Es gibt zwei Gründe, weshalb Menschen AfD wählen: Erstens, weil sie rassistisch und nationalistisch sind. Oder zweitens, um die etablierten Parteien zu treffen.“ Der 72-Jährige erhält Applaus, als er klarstellt: „Wer Leute in der Nähe der Nazis wählt, trägt auch Verantwortung dafür – egal, aus welchem Motiv er AfD wählt.“

Anfeindungen nach der Wende

Gysi zählt Fehler auf, die bei der Einheit gemacht wurden und die sich nach 30 Jahren noch auf das Verhältnis von Ost- und Westdeutschen auswirken, dafür erntet er viel zustimmendes Nicken im Publikum: „Einige Sachen im Osten waren gut, zum Beispiel die Gleichstellung der Geschlechter, die Berufsausbildung parallel zum Abitur oder die Polikliniken. Hätte man auch nur ein paar dieser bewährten Strukturen übernommen, hätte das in Deutschland die Lebensqualität erhöht, das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen angehoben und den Westlern gezeigt, dass nicht alles schlecht war im Osten.“ Gysi, der im Überschwang auch mal das Adjektiv „DDR-isch“ verwendet, kämpft um die Akzeptanz spezifisch ostdeutscher Lebenswege.

Er zählt – als SED-Mitglied, nach der Wende Parteivorsitzender der Nachfolgeorganisation PDS, Mitbegründer der Partei Die Linke – über Parteigrenzen hinweg zu den beliebtesten Politikern. Nach der Wende musste er im Osten wie im Westen aber hart dafür arbeiten, seinen Ruf und den seiner Partei zu verbessern. „Mittlerweile hören mir die Menschen anders zu, wenn ich etwas sage, sogar in Bayern“, freut er sich über diese Wertschätzung. Aber er hält nicht damit hinter dem Berg, dass all die Geringschätzung, Schmähungen, Beschimpfungen, Anfeindungen und Verdächtigungen nicht spurlos an ihm vorüber gegangen sind: Mit Schaudern erinnert er sich daran, wie er in Thüringen auf dem Weg in eine Veranstaltung vielfach bespuckt wurde, sich nicht beirren ließ und unnachgiebig weiterging. „Ich renne nicht weg, niemals.“ Er verrät, obwohl kein religiöser Mensch, dass ihm in solchen Momenten die Bergpredigt Kraft gibt: „Ich hasse nicht zurück. Ich analysiere: Warum hasst er mich? Dann kann ich milder beurteilen, und das macht souverän. Na ja, lieben muss ich meine Gegner aber auch nicht“, sagt er grinsend. In schwierigen Momenten eben nicht wegzurennen und den Kopf oben zu halten, gelinge nur mit Humor.

Diese Eigenschaft habe er sich in seiner Zeit als einer der wenigen freien Rechtsanwälte in der DDR angeeignet: „Zum Anwalt kommen nur unglückliche Menschen. Da muss man aufpassen, dass man nicht selbst depressiv wird.“ Später als Politiker sei ihm schnell klar geworden: „Wenn ein politischer Vortrag nichts Unterhaltendes hat, ermüdet das ungemein. Und ich will ja, dass die Leute mir zuhören.“