Das alles haben die Mülltaucher in einer Nacht aus den Containern gefischt. Foto: Osswald - Osswald

Sie kommen nachts und holen, was andere wegschmeißen: Mülltaucher durchforsten die Tonnen von Supermärkten. Was sie finden, kann sich sehen – und schmecken lassen.

EsslingenKnapp 20 Minuten, dann ist alles vorbei. Eben noch gaben Sandra, Lea und Florian Proteinmüsli und Pulverkaffee aus Mülltonnen unter dem kleinen Schlitz des Geheges hindurch, als wäre es eine Durchreiche im Restaurant. Riesige Tüten, bis zum Reißen gefüllt, werden verstaut im Kofferraum des Autos. Die Handy-Uhr zeigt drei Nullen. Sandra, Lea und Florian heißen in Wirklichkeit anders, möchten ihre richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Aus gutem Grund: Was sie getan haben, ist in Deutschland illegal. Das Mülltauchen, auch „Containern“ genannt, kann wegen Diebstahls und Hausfriedensbruchs zur Anzeige gebracht werden. Seit knapp zwei Jahren leeren sie die dunkelgrünen Tonnen eines Esslinger Supermarkts. Die Auswahl gleicht dabei einem normalen Einkauf: Gemüse, Joghurt, Kaffee, Müsli, Wurst, Knäckebrot – auch teure Markenprodukte sind keine Seltenheit. Warenwert der nächtlichen Beute: ungefähr 250 Euro. Manche Sachen sind noch einen ganzen Monat haltbar, andere schon ein paar Tage drüber. Das stört die Mülltaucher jedoch nicht. „Ich esse Lebensmittel auch noch Monate nach Ablaufdatum“, sagt Lea. Das Fühlen, Riechen und Schauen sei allerdings unentbehrlich, fügt Florian hinzu. „Diese Fixierung aufs MHD ist totaler Irrsinn“, so Lea weiter. Sie erzählt, sie wolle in der Gesellschaft Bewusstsein dafür schaffen, anders mit Lebensmitteln umzugehen. „Es geht letztlich um Wertschätzung der Nahrung“, sagt die Sozialarbeiterin.

Die Beweggründe fürs Containern ähneln sich bei dem jungen Trio stark. Ein Zeichen setzen gegen die Wegwerfgesellschaft, gegen Verschwendung und Dekadenz. Lea kritisiert die Anspruchshaltung vieler Konsumentinnen und Konsumenten: „Es kann nicht sein, dass man kurz vor Ladenschluss noch fünf Kaffeesorten, drei Fischarten und zehn verschiedene Joghurts haben muss, zwischen denen man wählen kann.“

Doch der Abfall-Aktivismus bleibt stiller Protest. Gezwungenermaßen, denn die hiesige Rechtslage hält die drei dazu an, ihre nächtlichen Ausflüge zu den Tonnen geheim zu halten. Da sich die Container meist auf dem Gelände des Supermarktes befinden, gilt der Straftatbestand Hausfriedensbruch. Komplizierter wird es beim Diebstahl: Theoretisch klaut man Eigentum des Betreibers beim Containern. Müll kann unter Umständen jedoch eine „herrenlose“ Sache sein, wenn der sogenannte Besitzwille daran aufgegeben wird. Wann oder ob Ladenbesitzer dies tun – das weiß keiner. In der Praxis werden Mülltaucher selten geahndet. In der Schweiz ist das Mitnehmen von Abfall übrigens nicht strafbar. „Eine klare Grenze ist jedoch das Aufbrechen von verschlossenen Containern“, sagt Christiane Manthey, Abteilungsleiterin Lebensmittel und Ernährung der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg. Dabei handele es sich ohne Zweifel um Sachbeschädigung. Auch das Durchwühlen von privaten Mülleimern sei sehr problematisch. Manthey plädiert für eine Reduzierung des Mülls, ohne dass man sich auf das Abenteuer Containern einlässt: „Supermärkte sollten ihre Warenwirtschaftsprogramme auf Vordermann bringen.“

Der nächste Streifzug steht an. Es ist halb zwölf nachts , auf den Straßen sind kaum Menschen. Sandra windet sich mit ihrer zierlichen Statur akrobatisch zwischen Pflastersteinboden und Stahlzaun hindurch. Auf die Idee kam sie erst kürzlich. In der Vergangenheit kletterte sie katzenartig und ohne groß Geräusche zu machen über den etwa vier Meter hohen Zaun. Die drei sind ein eingespieltes Team: Während Sandra mit der Stirnlampe die dunkelgrünen Tonnen systematisch durchforstet, stehen Lea und Florian Schmiere. Sie schichten das Essen, das für die meisten Menschen Müll ist, in eine große Tasche. Plötzlich geht Licht an. Eine Anwohnerin blickt kritisch auf die Lebensmittel-Retter, ans Fenster gelehnt, sagt jedoch nichts. Die Anspannung wächst. Schnell wird der Rest hinübergeschoben, verstaut, dann verschwinden sie in die Nacht. Zurück in der WG wird alles noch einmal genau angeschaut. Haltbarkeits-Datum, Aussehen, Geruch, Gefühl. Allerdings: Die Ausbeute ist dieses Mal mager. „Manchmal kommt nicht viel rum. Es kommt immer darauf an, wann die Betriebe ihre Tonnen geleert haben“, erklärt Sandra. Glück gehört auch dazu. Erwischt wurde nachts noch niemand. Ein Freund der drei Endzwanziger wurde aber einmal überrascht. Das sei allerdings tagsüber gewesen. Rechtliche Folgen habe es für ihn nicht gegeben. „Der Kick, das Adrenalin sind auch Teil das Ganzen“, gibt Sandra zu. Ein vollerer Geldbeutel für andere Dinge ebenso – das könne kein Mülltaucher abstreiten. Das Trio versucht auch abseits des Tauchens in der Tonne ihre Mitmenschen zu einem bewussteren Umgang mit Nahrung anzuhalten. Dabei stoßen sie nicht immer auf Akzeptanz. Doch es ist ihnen wichtig. Sie handeln nicht aus reinem Eigennutz, sondern haben die Gesellschaft im Blick. Florian sagt: „Ich würde dafür auch in den Knast gehen.“