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Das geringe Bevölkerungswachstum und eine Frühform des Stadtmarketings beschäftigen die Eßlinger Zeitung 1895. Ein Großereignis lockt die Korrespondenten aus der Reichstadt in den Norden des Landes.

EsslingenIm Jahr 1895 verschärft sich der restriktive Kurs in Deutschland gegen die Sozialdemokratie weiter. Der Bundesstaat Preußen nutzt das Vereinsrecht zur Unterdrückung der Opposition. Elf sozialdemokratische Vereine sowie der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands werden wegen anti-monarchistischer Bestrebungen aufgelöst.

Eine Volkszählung in diesem Jahr ergibt eine Bevölkerung im Deutschen Reich von knapp 52,3 Millionen Menschen, fast zwei Drittel davon in Preußen. Eine begleitende Berufs- und Gewerbezählung weist deutschlandweit eine Zahl von etwa 20 Millionen Industriearbeitern aus. Die Stadt Esslingen bleibt übersichtlich. Die Eßlinger Zeitung meldet als Ergebnis der Zählung 23 923 Bürger, 4459 von ihnen leben „auf den Filialien“ – mithin ein Bevölkerungszuwachs von 7,55 Prozent gegenüber 1890. Damit sei Esslingen „hinter anderen Städten von ähnlicher Bedeutung zurückgeblieben“, habe jedoch seinen Rang als viertgrößte Stadt Württembergs behauptet.

Der Würzburger Physiker Wilhelm Conrad Röntgen entdeckt die später nach ihm benannten Strahlen. Die Brüder Auguste und Louis Jean Lumière melden ihren Kinemathographen zum Patent an. Eine erste öffentliche Filmvorstellung wird im Dezember in einem Pariser Café gegeben.

Im Frühjahr stellt der russische Physiker Alexander Popow einen Empfänger für Funksignale vor. Damit ergänzt er die Entwicklung des italienischen Ingenieurs Guglielmo Marconi, der einige Monate zuvor mit einem Funksignal eine elektrische Klingel zum Läuten gebracht hatte. Die Grundlagen der modernen Rundfunktechnik sind somit geschaffen.

Im Juni eröffnet Kaiser Wilhelm II. nach acht Jahren Bauzeit den nach seinem Großvater benannten Kaiser-Wilhelm-Kanal zwischen der Elbmündung bei Brunsbüttel und der Ostsee bei Kiel. Der etwa 100 Kilometer lange Kanal, 1948 in Nord-Ostsee-Kanal umbenannt, spart Handelsschiffen den Weg um die dänische Halbinsel Jütland, war aber zunächst vorrangig unter militärischen Gesichtspunkten geplant worden.

Die Eßlinger Zeitung berichtet sehr ausführlich von dem Ereignis und den Feiern entlang des Kanals, die Korrespondenten finden allenthalben „prachtvolle Illumination“, „überaus herrliches Feuerwerk“, „brausende Hurrahs“ und „besonders stürmische Ovationen“ vor. Der Kanal „soll ein Sinnbild des Friedens sein und des Zusammenwirkens aller europäischen Kulturvölker zur Hochhaltung der europäischen Kulturmission“, zitiert die Zeitung aus des Kaisers Rede beim offiziellen Festakt vor Vertretern vieler europäischer Staaten. „Die Stimmung unter den 3000 Geladenen war animiertest.“

Die Stadt Esslingen kann mit solch publikumsträchtigen Ereignissen zwar nicht aufwarten, doch der Gemeinderat kümmert sich durchaus um das Stadtmarketing und die Förderung des Tourismus. Die Räte beschließen laut Eßlinger Zeitung, „behufs Hebung des Fremdenverkehrs in unserer Stadt“ bei der „lith. Kunstanstalt von J. F. Schreiber dahier“ 3000 Exemplare eines Werbeplakats mit Stadtansichten herstellen zu lassen. Dem war eine längere Diskussion um die Kosten von 2000 Mark vorangegangen, doch schließlich werden „wegen der im nächsten Jahr in Stuttgart stattfindenden Ausstellungen“ die noch fehlenden 600 Mark „in Ausgabe verwilligt“.