Vor 50 Jahren haben die ehemaligen Studenten ihren Abschluss in Esslingen gemacht - zum Jubiläum waren sie gestern beim Kandelmarsch dabei. Quelle: Unbekannt

Von Melanie Braun und Raphael Conrad

Kristján Sigurgeirsson ist gestern Morgen in aller Herrgottsfrühe aufgestanden. Um 6.30 Uhr ist der Isländer aus Reykjavik bereits am Stuttgarter Flughafen gelandet, um rechtzeitig in Esslingen zu sein. Denn dort warteten schon seine Studienkollegen, um mit dem Kandelmarsch den gemeinsamen Abschluss zu feiern. Allerdings war das für die neun Freunde nicht der Auftakt für den Start ins Berufsleben - das haben die meisten von ihnen längst hinter sich. Vielmehr feierte die lustige Truppe ein Jubiläum: Auf den Tag genau gestern vor 50 Jahren beendeten die Ingenieure mit dem Kandelmarsch ihr Studium in Esslingen.

Kurz vor Beginn des Kandelmarsches am Campus in der Stadtmitte scheinen die Jubilare aber fast so aufgeregt zu sein als stünde ihr eigener Studienabschluss an. „Schnell, Dieter, hol‘ die Leiter“, ruft Kurt Frank seinem Kumpel zu. Das sei noch die gleiche wie vor 50 Jahren, erzählt er stolz, als die Herren fürs Foto posieren. Sie haben sich in Schale geschmissen, so wie es sich zu dem Anlass gehört: Alle tragen einen schwarzen Anzug, Frack, ein weißes Hemd und Zylinder. „Das haben wir alles geliehen, genau wie vor 50 Jahren“, erzählt Kurt Frank und grinst. Überhaupt sei alles genau wie damals, als ob gar keine Zeit vergangen sei, findet der 74-Jährige.

Dabei haben sie alle inzwischen ein jahrzehntelanges Berufsleben hinter sich: Kristján Sigurgeirsson ist nach dem Studium zurück nach Island gegangen und hat ein Beratungsunternehmen mit rund 40 Mann aufgebaut, das vor allem Firmen der Fischindustrie berät. Auch Arnd Kuhk hat es ins Ausland verschlagen: Seit 45 Jahren lebt der 74-Jährige in New Jersey, USA. „Meine Firma hat mich damals dorthin geschickt“, erzählt er. Er ist geblieben - aber wenn möglich, trifft er sich einmal im Jahr mit seinen früheren Kommilitonen. Einige von ihnen sind auch in der Region geblieben und haben für Daimler, Porsche oder Bosch gearbeitet.

Jetzt steht vor allem die Freude über das Wiedersehen im Mittelpunkt: „Wir freuen uns riesig, dass wir nach 50 Jahren das erste Mal wieder beim Kandelmarsch sind“, jubelt Kurt Frank. Voller Begeisterung schultert er mit seinen Kumpels die Leiter und reiht sich in den Zug für die Tour durch die Stadt ein, mit der die Absolventen traditionell in Anzug und mit Zylinder ihr Studium beschließen. Unter Franks Kommando („und links! und links! und links!“) marschiert die Truppe akkurat im Gleichschritt - selbst an den kritischen Stellen mit Bordstein. Denn die Tradition will es, dass die Absolventen dort mit einem Fuß auf dem Gehweg und dem anderen auf der Straße laufen (siehe Infobox). Das gelingt den Jubilaren mit ihrem schwungvollen Schritt sogar besser als manchem Absolventen, von denen einige ihre liebe Not haben, mit dem Vordermann Schritt zu halten. Andere klagen bereits in der Ritterstraße über Überlastung des linken Beins und manch einer läuft gleich ganz auf dem Gehweg oder der Straße.

Aber das Wichtigste am gestrigen Tag ist für die Studenten ohnehin nicht die Figur, die sie beim Marsch durch die Altstadt abgeben. Vielmehr dürfte sie die Tatsache umtreiben, dass mit der Veranstaltung ein intensiver Abschnitt ihres Lebens zu Ende geht.„Alles in allem war es schön, aber ich bin froh, dass es vorbei ist“, fasst Puneh Abkenari ihre Studienzeit zusammen. Bevor die 29-Jährige ins Berufsleben startet, nimmt sie sich eine kleine Auszeit. Sechs Wochen wird sie in den USA verbringen. Im Gepäck hat sie bereits einen unbefristeten Arbeitsvertrag bei Bosch.

Ihrem Kommilitonen Dennis Frei geht es ähnlich: Er habe sogar einige Tränchen der Erleichterung verdrückt, als er den Abschluss seines Medieninformatikstudiums in der Tasche hatte, verrät er. Nach einem Monat Verschnaufpause hat der 26-Jährige im September seinen ersten Arbeitstag. Ganz so viel Zeit hat sein Kommilitone Steffen Seelig nicht mehr: Bereits am Dienstag tritt er seine neue Stelle beim Montagespezialisten Würth an. Die Studienzeit beschreibt er als „schwierig und zeitintensiv“. Dennoch möchte er die Zeit an der Hochschule nicht missen: Hier habe er gute Freunde kennengelernt. Insgesamt ist er zufrieden: „Ich freue mich einfach, dass es vorangeht.“

Das sieht Lukas Wizemann ähnlich: „Man ist glücklich, aber ein wenig Wehmut ist schon auch dabei“, sagt der Absolvent im Masterstudiengang Fahrzeugtechnik. Auch die Tradition des Kandelmarschs ist für ihn etwas ganz Besonderes. Da ist er nicht der Einzige: Insgesamt wurden gestern 531 Studenten von Christian Maercker, dem Rektor der Esslinger Hochschule, verabschiedet. Die meisten von ihnen dürften das besondere Ereignis genossen - und später in einer Esslinger Kneipe auch gefeiert haben.

Der Ursprung der Tradition

Kandidatenabfuhr: Nach dem Ersten Weltkrieg wollten die Absolventen des Wintersemesters 1921/22 den Abschluss ihres Studiums an der damaligen Staatlichen Württembergischen Maschinenbauschule Esslingen besonders eindrucksvoll feiern: Sie besorgten sich einen Leiterwagen, der von Pferden gezogen wurde und sie durch die Straßen der Stadt fuhr. Das war der Anfang der sogenannten Kandidatenabfuhr, die auch heute noch den Auftakt zum Kandelmarsch macht.

Kandelmarsch: Ebenfalls im Jahr 1922 soll der Kandelmarsch entstanden sein. Der Überlieferung nach kamen einige Studenten nach einer ausgelassenen Feier vom Zollberg hinunter, auf den Schultern trugen sie eine Leiter, die sie aus Jux mitgenommen hatten. Als sie im Gänsemarsch durch die Straßen zogen, forderte ein Polizist sie auf, aus Gründen der Verkehrssicherheit auf dem Bürgersteig zu gehen. Doch nur wenig später befahl ein anderer Polizist, sie sollten den Gehweg verlassen und auf der Straße weiterlaufen. Die Studenten entschlossen sich für einen Kompromiss: Sie gingen mit einem Fuß auf dem Gehweg, mit dem anderen auf der Straße weiter. So wird es beim traditionellen Kandelmarsch durch die Esslinger Altstadt zum Studienabschluss nun in jedem Jahr praktiziert.