Ahmet Gül (hinten, 2. von links), Isin Toymaz (vorne, 2. von rechts) und ihr CHP-Team kämpfen für ein Nein (Hayir) beim Referendum. Foto: Bulgrin Quelle: Unbekannt

Von Melanie Braun

Die türkische Politik hat in Deutschland Hochkonjunktur: Besuche türkischer Politiker, verhinderte Wahlkampfauftritte und das nahende Verfassungsreferendum sind in aller Munde. In Esslingen hat sich nun ein Ableger der türkischen Oppositionspartei CHP gegründet. Vorerst wollen sich die Mitglieder auf das Referendum konzentrieren und möglichst viele ihrer Landsleute dazu bewegen, mit Nein zu stimmen. Doch auch langfristig will sich die Gruppe hier politisch engagieren.

Allerdings hat die CHP hierzulande den Status eines Vereins, nicht den einer Partei. „Man darf in Deutschland keine türkische Partei aufbauen“, erklärt Ahmet Gül, Leiter des Esslinger CHP-Teams, das sich im Februar gegründet hat. Aber auch als Verein habe man ganz klar politische Ziele. So wolle die CHP die türkischstämmigen Menschen vor Ort dazu bringen, zu wählen - sowohl bei türkischen als auch bei deutschen Wahlen. Kerninteressen seien zudem soziale Gerechtigkeit und Demokratie, Integration und Bildung. „Die CHP ist quasi die SPD in der Türkei“, sagt Isin Toymaz, die Stellvertreterin von Gül. Deshalb würde man in Zukunft auch gerne mit den Esslinger Sozialdemokraten kooperieren.

Hauptziel: Nein beim Referendum

Aber vorerst hat die junge Gruppe andere Sorgen. „Unser Hauptziel ist erst einmal, für ein Nein beim Referendum zu werben“, sagt Ahmet Gül. Denn bei der vom türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan in die Wege geleiteten Volksabstimmung über eine Änderung der türkischen Verfassung gehe es um Leben und Tod in der Türkei, sagt Gül. „Die Sache hängt an einem seidenen Faden.“ Denn wenn die Mehrheit Ja sage, wäre das aus seiner Sicht eine Katastrophe: „Dann hätte Präsident Erdogan sämtliche Macht.“

In Esslingen verteile die Gruppe deshalb Broschüren über das Referendum und gehe in Cafés und Läden, um mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, erzählt Gül. Zudem organisiere man Treffen mit türkischen Vereinen und habe zwei Youtube-Videos zur Aufklärung über die Inhalte des Referendums gedreht. Schließlich sei die CHP erst seit wenigen Jahren in Deutschland aktiv, man habe viel aufzuholen gegenüber der türkischen Regierungspartei AKP, die schon seit Jahrzehnten Ableger in der Bundesrepublik habe, sagen Gül und Toymaz.

Bis zu der Volksabstimmung, an der die Türken in Deutschland vom 27. März bis zum 9. April teilnehmen können, haben Gül und Toymaz noch alle Hände voll mit der Nein-Kampagne zu tun. Dabei engagieren sich die beiden erst seit der Gründung der Esslinger CHP-Gruppe, also erst seit wenigen Wochen, politisch. Ahmet Gül, der im Alter von sieben Jahren aus der Türkei nach Deutschland kam, arbeitet hauptberuflich als Telefonist im Esslinger Klinikum. Ansonsten ist der 46-Jährige eher in der Kulturszene zu Hause: Er ist ausgebildeter Bariton und Kammersänger. Er sei zwar schon lange in der CHP Baden-Württemberg aktiv, aber als die Vereinszentrale in Mannheim ihn fragte, ob er nicht eine Ortsgruppe in Esslingen gründen wolle, habe er lange gezögert, erzählt er. Das nahende Referendum habe ihn dann motiviert. Ebenso Isin Toymaz: Die 50-Jährige, die seit 30 Jahren in Deutschland lebt, schreibt für türkische Medien. „Als Journalistin wollte ich eigentlich immer neutral bleiben und mich für keine Partei engagieren“, sagt sie. Doch das drohende Ja beim Referendum habe sie umgestimmt.

Weitere Mitglieder gesucht

Inzwischen sind neun Mitglieder in der Esslinger CHP-Gruppe aktiv. Man suche noch eine weitere Person für den Vorstand - und natürlich möglichst viele Mitglieder, sagen Gül und Toymaz. Sowohl Türken als auch Deutsche seien herzlich willkommen. Schließlich wolle man langfristig auch Themen anpacken, die Deutschland beträfen.

Das bestätigt auch Kazim Kaya, der Vorsitzende des Vereins CHP Bund Baden-Württemberg, zu dem die Esslinger Gruppe gehört. Ein großes Ziel sei, die sozialdemokratische Idee bei den Mitgliedern in Deutschland, Europa und der Türkei zu verankern und die Zusammenarbeit zwischen türkischen Migranten und deutschen Sozialdemokraten zu verstärken.

die chp und das referendum

CHP in der Türkei: Die Cumhüriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei) ist die älteste aktive Partei in der Türkei. Sie wurde 1923 von Mustafa Kemal Atatürk gegründet, dem Gründer und ersten Präsidenten der modernen Republik, die nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Osmanischen Reich hervorging. Seit der Parlamentswahl im Jahr 2002 - aus der die AKP, die Partei des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, als Sieger hervorging - bildet die CHP die größte parlamentarische Oppositionspartei in der Türkei.

CHP in Deutschland: Laut dem Vorsitzenden des Vereins CHP Bund Baden-Württemberg, Kazim Kaya, hat sein Verein im Land 1200 Mitglieder, bundesweit seien es insgesamt 6500 und europaweit etwa 15 000. Man wolle die Zusammenarbeit und die Verständigung zwischen Sozialdemokraten in Deutschland, Europa und der Türkei fördern und weiterentwickeln. Weitere Ziele seien die Bekämpfung anti-demokratischer Bestrebungen wie Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus und religiösem Fundamentalismus sowie die Organisation von Bildungsveranstaltungen und Bildungsreisen. Auch die Zusammenarbeit mit Parteien, Stiftungen, Vereinen, Institutionen und Organisationen in Deutschland, Europa und der Türkei mit ähnlichen Zielen stehe auf der Agenda. Zudem mache man derzeit mobil gegen die von Erdogan anvisierte Verfassungsänderung in der Türkei.

Referendum: Bei der Volksabstimmung entscheiden die Wähler, ob sie für oder gegen die von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vorgeschlagenen Änderungen der Verfassung der Türkei sind. Vorgesehen sind unter anderem die Stärkung der Rechte des Staatspräsidenten und die Schwächung der Rechte des Parlaments. Das parlamentarische Regierungssystem soll einem Präsidialsystem weichen, zudem würden die Änderungen eine nur noch schwache Gewaltenteilung zur Folge haben. Kritiker warnen, dass mit der Reform alle in einer Demokratie notwendigen Kontrollinstanzen wegfallen würden und sie einem autoritären System den Weg ebne. Auch Kazim Kaya und die CHP-Gruppe Esslingen befürchten das. Sie warnen vor einer Ein-Mann-Herrschaft, einem Ein-Parteien-Staat, der Gleichschaltung der Justiz, dem Ende der parlamentarischen Demokratie und mangelnder Kontrolle der Regierenden. In Deutschland sind rund 1,4 Millionen Menschen mit türkischem Pass wahlberechtigt.