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Beim Luftangriff auf Esslingen am 10. März 1918 wurde zwar niemand getötet. Die Bomben versetzten die Bewohner aber in Angst und Schrecken und machte ihnen bewusst, dass die Region vorrangiges Ziel war.

Esslingen Mit dem Luftangriff auf Esslingen kam der Krieg am 10. März 1918 an die Heimatfront. „Die Bedrohung ihrer Städte aus der Luft war für die Menschen des Ersten Weltkrieges ein völlig neues, und gerade deshalb umso bedrohlicher erlebtes Phänomen“, erklärt Winfried Mönch. Der promovierte Historiker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wehrgeschichtlichen Museum in Rastatt und hat sich mit dem Bombenangriff auf die einstige Reichsstadt beschäftigt.

Am 10. März 1918 wurde in Esslingen und Stuttgart gegen 11.20 Uhr Luftalarm gegeben. Im Anflug waren zehn leichte britische Bomber, einmotorige Doppeldecker, die mit je zwei Mann Besatzung drei Stunden zuvor in Tantonville bei Nancy gestartet waren. Sie warfen jeweils bis zu 200 Kilo-Bomben über dem mittleren Neckarraum ab. Am Tag nach dem Angriff meldeten die württembergischen Zeitungen, dass „einige Wohngebäude beschädigt“ und „fünf Zivilpersonen“ verletzt worden seien, darunter zwei Frauen und zwei Kinder. „Militärischer Sachschaden“ sei nicht entstanden. Deutsche Jagdflieger hätten die feindlichen Maschinen verfolgt und eine zur Notlandung im Nordschwarzwald gezwungen. Die Besatzung sei gefangen genommen worden.

Wie nach Luftangriffen üblich, erstellten die Militärbehörden auch ein „Trefferbild“. Aus der Verteilung der Bombeneinschläge wollte man Rückschlüsse auf das Angriffsziel und die Taktik des Gegners ziehen und die eigene Luftverteidigung besser organisieren. Angefertigt wurden zwei Karten, die im Hauptstaatsarchiv Stuttgart erhalten sind. Eine Karte, die die Einschläge um Esslingen zeigt, wird in diesem Monat im Stadtmuseum gezeigt.

Piloten verfehlen ihr Ziel

Dem auf Tagangriffe gegen Deutschland spezialisierten Geschwader war 1918 als Hauptangriffsziel die Industrieregion Stuttgart zugewiesen worden. Westlich von Esslingen erkannten die Piloten einen Industriekomplex, die Maschinenfabrik Esslingen. Sie verfehlten die Fabrik, trafen aber Mettingen, wo Verletzte zu beklagen waren. Auch ihr eigentliches Angriffsziel, die Daimler Motorenwerke in Untertürkheim, trafen sie nicht.

Obwohl glücklicherweise keine Todesopfer zu beklagen waren, hatten die feindlichen Bomber die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt. Das zeigt ein im Stadtarchiv verwahrter Brief, den die junge Esslinger Ingenieursgattin Gertrud Förster ihrem Mann am 11. März an die Front schickte. Auf dem Weg zu einer Freundin in Stuttgart waren Gertrud Förster und ihr kleiner Sohn überrascht worden: „Denk Liebling, welch ein Sonntag gestern! … Wir suchen grad die Hausnummer, das Fräulein wohnt nicht weit vom Wilhelmsbau, da fallen die ersten Schüsse (Fliegeralarm). Nun sind wir ins nächste Haus in den Keller, der war massiv und alt, mit den andern Leuten und dauerte es ¾ Stunde. … Mutti war froh, als wir wieder da waren. Denk 1 Granate schlug bei dem Hammerwerk, bei der Zimbria ein, einige auf der Neckarhalde und in Mettingen, da sind viele Fenster kaputt, 1 Dach ganz runter, eine Mauer weggerissen. Diesmal war es bei uns und nichts in Stuttgart.“

Der Angriff machte den Esslingern bewusst, dass Stuttgart trotz seiner für damalige Verhältnisse beträchtlichen Entfernung von den in Lothringen gelegenen feindlichen Flugplätzen ein erstrangiges Ziel alliierter Flieger war. Zu wichtig waren die Daimler Motorenwerke und Boschs Zündkerzenproduktion als Schlüsselindustrien für die deutsche Kriegsführung. „Mindestens zehn Mal wurden die Württembergische Hauptstadt, und damit die angrenzende Region, bis zum Waffenstillstand aus der Luft attackiert“, hat Winfried Mönch herausgefunden. Eröffnet hatte den Bombenkrieg gegen das Hinterland im Jahr 1914 aber die deutsche Seite.

„In der Presse wurden die Bombardements von Städten regelmäßig als Repressalien, das heißt als bewusster Bruch des Kriegsvölkerrechtes zur Vergeltung eines vorangegangenen Rechtsbruches der Gegenseite, dargestellt“, erläutert der Militärhistoriker. So meldete der deutsche Tagesbericht vom 12. März, dass „zur Vergeltung für feindliche Fliegerangriffe am 9. und 10. März auf Stuttgart, Eßlingen, Untertürkheim und Mainz“ eigene Flugzeuge „in letzter Nacht Paris ausgiebig und erfolgreich mit Bomben belegt“ hätten.

Die britischen Piloten, die am 10. März 1918 Esslingen und Stuttgart angegriffen hatten, waren laut dem offiziellen deutschen Bericht für die „Flak-Gruppe-Stuttgart“ in 3000 Meter Höhe geflogen. Ihre Sicht zum Boden war wegen des Dunstes im Neckartal schlecht. „Die Folgen solcher nicht ungewöhnlicher Bedingungen führen die ,Trefferkarten’ vor Augen. Selbst Ziele von der Größe einer ausgedehnten Fabrikanlage ließen sich vom Bombenflugzeug aus nur schwer treffen“, weiß der Rastatter Militärhistoriker. Das galt noch bis weit ins 20. Jahrhundert und hatte die fatale Konsequenz, dass Theoretiker und Strategen künftiger Luftkriege Städte mitsamt ihrer Bevölkerung wie selbstverständlich zum legitimen Angriffsziel erklärten.

„Dahinter stand ein ethisch-humanitär in den Abgrund führendes Argument, das für den modernen Krieg erstmals der Nordstaatengeneral William T. Sherman 1864 in der Endphase des Amerikanischen Bürgerkrieges propagiert hatte“, erläutert Winfried Mönch. Sherman hatte erklärt, dass die herkömmliche Unterscheidung von Front und Heimat, Soldat und Zivilist in einem mit letztem Einsatz geführten Krieg ganzer Gesellschaften, Völker oder Nationen keine Geltung mehr haben könne, weil die Kriegsanstrengungen der Heimat den Kampf der Soldaten erst möglich machten und darum an der Wurzel gebrochen werden müssten.

Die Eßlinger Zeitung begleitet als Kooperationspartnerin das Stadtarchiv und das Stadtmuseum bei der Präsentation von 52 „Objekten des Monats“. Sie werden als Teil des historisch-kulturellen Langzeitprojekts „52 x Esslingen und der Erste Weltkrieg“ im Gelben Haus am Hafenmarkt präsentiert. Die wachsende Ausstellung der Objekte, die aus öffentlichem und privatem Besitz zusammengetragen werden, will von August 2014 bis Oktober 2018 auf die Geschichte des Ersten Weltkriegs speziell aus Esslinger Perspektive aufmerksam machen.

Unter dem Titel „Entgrenzter Krieg“ hält Winfried Mönch am Dienstag, 6. März, im Stadtmuseum einen Vortrag über den Bombenangriff auf Esslingen. Beginn ist um 18 Uhr, der Eintritt ist frei.