Das Interesse an Erziehung ist groß: 300 Gäste warten gespannt auf die Podiumsdiskussion – darunter EZ-Chefredakteur Gerd Schneider (rechts). Foto: Kaier - Kaier

EsslingenHerbert Renz-Polster ist ein Evoluzzer. Von einer autoritären, distanzierten Erziehung hält der Kinderarzt ebenso wenig wie von übereifrigen Helikopter-Eltern. Stattdessen will der vierfache Familienvater Kinder verstehen. Den Schlüssel dazu meint er in der Jahrtausende langen Entwicklungsgeschichte der Menschheit gefunden zu haben. Als Erziehungsratgeber versteht sich der gebürtige Waiblinger trotzdem nicht: Eltern trägt er keine To-do-Liste auf; stattdessen will er ihnen die Gelassenheit im Umgang mit ihrem Nachwuchs zurückgeben. Den Lachern der 300 Gäste in der neu eröffneten Zentrale der Kreissparkasse Esslingen-Nürtingen in der Esslinger Bahnhofstraße nach zu urteilen, ist ihm das am Donnerstagabend gelungen. Bei der Talkrunde sprach Renz-Polster mit EZ-Chefredakteur Gerd Schneider über Bildungswahn, verunsicherte Eltern und tyrannische Kinder. Die Veranstaltung war Teil der Reihe „Im Gespräch“, die Kreissparkasse und Eßlinger Zeitung zum 27. Mal gemeinsam ausgerichtet haben.

Renz-Polsters Ansatz ist so schlicht wie plausibel: In der Evolution haben sich Verhaltensweisen durchgesetzt, die das Überleben der Spezies sichern. Da ist einmal das Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit. Eltern müssten ihren Kindern „Heimat“ geben. Während der zweistündigen Podiumsdiskussion wird der Sachbuchautor nicht müde zu betonen, dass „nur stabile und zuverlässige Beziehungen innerhalb der Familie Kinder stark machen“. „Und wenn die Kinder im Bett der Eltern schlafen wollen?“, wendet Moderator Schneider skeptisch ein. Er hat da schmerzvolle Erinnerungen an durchwachte Nächte mit seiner quengelnden Tochter. Doch der Erziehungsexperte hält dagegen: „Leistung führt nicht ans Ziel, sondern Entspannung. Das ist beim Einschlafen genauso wie beim Sex.“ Darum bezieht Renz-Polster klar Stellung gegen eine restriktive Erziehung. „Nur wenn Eltern eine schlechte Beziehung zu ihren Kindern haben, setzen sie auf Macht und Kontrolle.“

Gleichzeitig wollen Kinder sich selbst verwirklichen und ihre Umwelt gestalten. Beglucken, bevormunden und kontrollieren seien daher der falsche Weg. „Kinder sind keine kleinen Angestellten, denen man Ziele steckt und die man benchmarkt“, warnt Renz-Polster überambitionierte Eltern. „Unsere Triumphe der Kindheit haben wir nicht gefeiert mit Mama hinterm Baum.“ Stattdessen wollten Kinder sich an eigenen Zielen bewähren. „Nur so werden sie stark.“ Doch da hat Renz-Polster die Rechnung ohne die Leistungsgesellschaft gemacht, die Kinder von klein auf auf Erfolg im Job trimmt. „Staatliche Schulen betreiben eine Auslese, über die Zugangsberechtigungen zur Gesellschaft verteilt werden“, glaubt der Erziehungsexperte. Darum interessierten sich viele Eltern nicht für die Bildungsinhalte, sondern für die Noten ihrer Kinder. „Denen könnte man auch Südaserbaidschanisch unterjubeln.“ „Und die Reformpädagogik?“, fragt Schneider. „Schneidet besser ab“, meint Renz-Polster. „Weil sie Kinder zur Eigenständigkeit ermutigt.“

Liebe und Macht – seit der Steinzeit hat sich dem Wissenschaftler zufolge am Gefühlshaushalt der Menschen nicht viel verändert. Es steckt noch eine Spur Neandertaler in uns. Sechs Sachbücher hat der Autor zur kindlichen Entwicklung und Erziehung geschrieben. Jetzt hat er sich auf ein neues Thema verlegt: Rechtspopulismus. Die Basis dafür wird – wie könnte es anders sein – in der Kindheit gelegt.

Überzeugt dieser Ansatz? Der Mann auf jeden Fall tut es. Groß und schlank ist er. Aus dunklen Augen unter dem schwarz-grauen Wuschelschopf blickt er freundlich in die Runde. Rasch springt der Funke über: Renz-Polster reißt Witze, das Publikum lacht. Der Mitarbeiter der Uni Heidelberg ist kein verkopfter Experte, der die Zuhörer mit verklausuliertem Wissenschaftsdeutsch verwirrt. Stattdessen sind die Thesen des vierfachen Vaters erfahrungsgesättigt. Kurzweilige Anekdoten aus dem Familienleben belohnen die Gäste mit Applaus. Streckenweise entspinnt sich zwischen Renz-Polster und Moderator Schneider ein launiger Schlagabtausch. Die Chemie zwischen den beiden stimmt. Renz-Polster gibt sich entspannt, nett und humorvoll. Irgendetwas muss der Mann in seinem Familienleben richtig machen.

Herbert Renz-Polster: Kinderarzt, Wissenschaftler, Autor

Herbert Renz-Polster wurde 1960 in Waiblingen geboren. Seine Kindheit beschreibt er als „wenig beschwerlich“ trotz „autoritär geschädigtem“ Vater. Nach dem Abitur 1979 studierte Renz-Polster Medizin in Gießen, München und Tübingen. Anschließend schrieb er seine Doktorarbeit in Pakistan und Indien. Von 1995 bis 2002 spezialisierte er sich in den USA zum Kinderarzt. Seit 2006 arbeitet Renz-Polster als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Heidelberg. Sechs Elternratgeber zum Thema kindliche Entwicklung und Erziehung hat er in den vergangenen13 Jahren geschrieben. Derzeit arbeitet er an einem Buch über Rechtspopulismus. Gleichzeitig gibt Renz-Polster Seminare und hält Vorträge. Der Vater von vier Kindern lebt mit seiner Frau bei Ravensburg.