Die modellierten, dreidimensionalen Figuren sind eine Besonderheit des Papiertheaters, das der Familie Schreiber gehört hat. Quelle: Unbekannt

Von Dagmar Weinberg

Ein Objekt wie dieses bekommt das Stadtmuseum nicht jeden Tag geschenkt. Das Papiertheater, das der Esslinger Geschichts- und Altertumsverein (GAV) für die Sammlung gekauft hat, „ist ein Objekt in Idealform“, sagt Hans Ulrich, Esslinger Steindruckermeister, GAV-Mitglied und Experte in Sachen Produkte aus dem Schreiber-Verlag. Denn das Miniatur-Theater wurde in Esslingen produziert. Da es der Familie Schreiber gehörte, die früher im Gelben Haus am Hafenmarkt gewohnt hat, „wurde es zudem an diesem Ort von den Schreiber-Kindern bespielt, und wir haben auch noch Zeugenaussagen, die das belegen. Mehr Authentizität geht kaum noch.“ Verkauft hat es eine inzwischen hochbetagte Nachfahrin des Firmengründers. „Ihre Urgroßeltern und Großeltern haben damit gespielt, und sie wollte, dass das Theater wieder eine Würdigung erfährt“, erklärt Christine Wanner, Kunsthistorikerin und GAV-Mitglied.

Spielzeug fürs gehobene Bürgertum

Die Miniaturbühnen entstanden Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Da Papier und Karton seit jeher das Metier des 1831 von Jakob Ferdinand Schreiber gegründeten Verlags waren, der vor allem mit seinen farbig illustrierten Kinder- und Naturbüchern sowie mit Bilder- und Bastelbögen Erfolg hatte, griff man die Idee auf. „Schreiber hat 1878 mit der Theaterproduktion angefangen, und zwar mit Drucksteinen, die er von einer Stuttgarter Firma gekauft hat“, berichtet Hans Ulrich. „Nach 1887 brachte Schreiber dann alle Theaterklassiker im Farbdruck heraus.“ Dass der Esslinger Verlag damals für die Lithografiesteine „eine horrende Summe“ hingeblättert hat, zeigt dem Experten, „dass Schreiber sofort erkannt hat, welches Potenzial in den Papiertheatern steckt“. Denn sie kamen nicht nur der Theaterbegeisterung des aufstrebenden Bürgertums entgegen. „Sie spiegeln auch wider, wie wichtig das Thema Bildung in den großbürgerlichen Familien war“, sagt Traute Scheuffelen, Vorsitzende des Geschichts- und Altertumsvereins. Da der Schreiber-Verlag, wie Hans Ulrich weiß, innovativ und stets am Puls der Zeit war, avancierte der Verlag mit seinen Papiertheatern, die auch exportiert wurden, schnell zum Marktführer. Angeboten wurden sowohl Komplettpakete inklusive Textbücher als auch auf dünnes Papier gedruckte Einzelbogen. Bevor aber ein Klassiker im heimischen Wohnzimmer Premiere feierte, mussten die Kulissen und Akteure auf Pappe geklebt, ausgeschnitten und das Theater auf einer Holzplatte verankert werden. „Im Vergleich zu den Ausschneidebögen waren die Theater sehr teuer“, erläutert Traute Scheuffelen. „Und man brauchte auch noch Platz, um sie aufzubauen, den man nur in den Bürgerhäusern hatte.“

Die jetzt vom GAV erworbene Miniaturbühne unterscheidet sich von anderen: So wurden Bühnenportal und Kulissen auf dicke Buchbinderpappe aufgezogen. „Das hat man sicher in der Firma gemacht, denn an derartiges Material sind normale Leute gar nicht dran gekommen“, sagt Hans Ulrich. Zudem gehören Kartons voller Kulissen zum Theater - von der romantischen Ritterburg über Szenen aus Asien bis hin zu Zügen. Für diese standen Modelle der Maschinenfabrik Esslingen Pate. „Den Kindern der Familie Schreiber stand das komplette Verlags-Repertoire des Verlags zur Verfügung“, sagt Christine Wanner. Eine weitere Besonderheit sind die modellierten, dreidimensionalen Figuren.

Schätze schlummern im Depot

Geht es nach Traute Scheuffelen und ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern soll das wertvolle Papiertheater nach der Restaurierung im Stadtmuseum - also am authentischen Ort - gezeigt werden. „Hier im Haus haben wir allerdings ein massives Platzproblem“, verdeutlicht die GAV-Vorsitzende. Auch sie hatte gehofft, dass die ehemaligen Räume des Polizeipostens im Erdgeschoss dem Museum zugeschlagen werden. Doch dort ist die städtische Poststelle eingezogen. „Wir brauchen dringend Räume, um die Themen Frühgeschichte und Industrialisierung zu präsentieren.“ An Objekten mangelt es nicht. „In den Depots des Museums schlummern Schätze von nationaler und europaweiter Bedeutung.“

Geschichts- und Altertumsverein Esslingen

Gründerzeit: Im Zuge der Industrialisierung waren seit 1830 auch in Esslingen bedeutende historische Gebäude der Modernisierung zum Opfer gefallen. In den folgenden Jahrzehnten besannen sich viele Esslinger der mittelalterlichen Geschichte der einstigen Reichsstadt. Am 17. Juli 1908 wurde schließlich der „Altertumsverein“ gegründet. Heute zählt der Geschichts- und Altertumsverein Esslingen (GAV) rund 360 Mitglieder.

Sammlung: Der neu gegründete Verein beschloss eine Sammlung anzulegen, die von „Kunstsinn, Fleiß und Geschicklichkeit unserer Vorfahren zeugen”, heißt es in der Chronik. Von 1926 bis 1989 präsentierte der Verein Teile seiner Sammlung im Alten Rathaus. Dann zogen Verein und Sammlung in das renovierte Gelbe Haus am Hafenmarkt um. Seither betreiben der Geschichts- und Altertumsverein Esslingen sowie die Stadt Esslingen gemeinsam das Stadtmuseum. Dieses wird von der Stadt finanziert, die Sammelstücke, die der GAV seit seiner Gründung zusammengetragen hat, bilden das Rückgrat der stadthistorischen Sammlung im Gelben Haus.

Denkmalschutz: Die Stadt, ihre Gebäude und Plätze, ihre Straßen und Winkel, ihre stadtbildprägenden Elemente unterliegen einem ständigen Wandel. Der GAV beobachtet und begleitet diesen Prozess, wehrt sich aber, wenn Investoren zu sorglos mit der historischen Substanz umgehen. Der Verein setzt sich dafür ein, das geschlossene Stadtbild als Gesamtanlage zu erhalten. In der Vergangenheit hat der GAV zahlreiche Gebäude vor dem Abriss bewahrt, unter anderem das Schelztorgymnasium, das Kögelhaus am Fischbrunnen und die ehemalige Gaststätte Hindenburg.

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