Die ersten Spaghetti in Freiheit: Heidi und Peter Schmidt speisen kurz nach der Ausreise bei den befreundeten Sauters in Ulm. Foto: privat

Ein Jahr vor dem Mauerfall siedelt die Familie unserer Autors in den Westen über. Eine Geschichte über Waffenschmuggel, Psychoterror und den Ruf der Freiheit.

Esslingen/Magdeburg/Ulm Das Blatt Papier im hinteren Teil eines schlichten Ordners ist leicht vergilbt. Auf diesem steht der Eintrag „20.07.88 Tag der Befreiung“. Den Ordner hat mir mein Vater vor einigen Wochen gegeben, und er erzählt die Geschichte bis zum Tag unserer Ausreise aus der Deutschen Demokratischen Republik. An diesem Freitag vor 29 Jahren fiel die Mauer, etwas mehr als ein Jahr zuvor im Juli 1988 fiel die Mauer für unsere vierköpfige Familie. Der Tag der Befreiung wurde bisher 30 Mal gefeiert, eine gute Gelegenheit also, anhand unseres exemplarischen Falles auf die Ära der Ausreiseanträge aus der DDR und den daraus folgenden innerdeutschen Deals zurückzublicken, die mit dem Mauerfall endete.

383.000 ausgereiste Menschen, die laut der Bundeszentrale für politische Bildung behördlich verzeichnet sind, bilden das Gros der DDR-Emigranten zwischen Mauerbau und Mauerfall. Sie konnten ihren Traum von Freiheit nur dank der Unterstützung von Helfern aus dem westlichen Politikerkreis und aus dem privaten Umfeld leben. Bei uns war dies vor allem mein Patenonkel Werner Sauter (siehe nebenstehendes Interview), der den Ordner mit den zahlreichen Dokumenten angelegt hat. Etwa 300 Blätter stapeln sich in diesem, „Stasi/Ausreise“ steht auf dessen Seitenetikett. Der Leser findet Einträge der Staatssicherheit, BRD-Ausweise für Flüchtlinge, Bitt- und Antwortschreiben in Bezug auf die berufliche Integration im Westen oder einen Bescheid für Überbrückungshilfe der BRD von 800 Mark. Die meisten Schriftstücke aber stehen im Zusammenhang mit dem Ausreiseantrag meiner Familie, der im Februar 1986 erfolgt. Papa Peter, Jahrgang 1950, Orthopäde und Sportmediziner, Mama Heidi, Jahrgang 1957, Medizinisch-technische Assistentin für Radiologie, Bruder Benjamin, Jahrgang 1979, Kindergartenkind, und ich, Fabian, Jahrgang 1983, Krippenkind – und nun Autor dieses Textes.

„Angst, dass unsere Kinder erschossen werden“

„In unserem Umfeld wurde nur noch geschimpft“, sagt meine Mom. „Daher habe ich gesagt: Entweder wir arrangieren uns mit dem System, was ich mir nicht vorstellen kann, oder wir gehen.“ Unerträglich sei es gewesen, seine Meinung nicht sagen oder nicht reisen zu dürfen, sich immer vor Repressalien fürchten zu müssen. „Man fühlte sich ständig unter Druck, wusste nicht, wem man trauen konnte.“ Zudem hätten meine Eltern Sorgen um uns Kinder gehabt, weil sie wussten, dass sie uns nicht im Sinne der DDR erziehen konnten. „Wir hatten Angst, dass unsere Söhne dadurch vielleicht mal bei einem Fluchtversuch an der Grenze erschossen werden. Das klingt heute komisch, aber damals waren das unsere Gedanken.“ Diesen Hauptgrund für den Ausreiseantrag verstärken Erfahrungen wie der an der Grenze auf dem Rückweg vom Ungarn-Urlaub 1985, als die Stasi die Familie auseinanderreißt und das Auto filzt. Die Folge: Verfahren wegen Waffenschmuggels. Die Waffe: ein Fleischklopfer. „Ich dachte, jetzt komme ich nicht mehr aus dem Knast raus“, sagt mein Vater. Hören wird er von der Anklage nichts mehr, aber der Vorfall ist der Anstoß, den Ausreiseantrag zu stellen, Flucht keine Option, weil Freunde dabei geschnappt wurden.

Parallel setzt sich im Westen mein Patenonkel Werner Sauter von da an häufiger an die Schreibmaschine, wie unzählige Briefe in dem Ausreise-Ordner zeigen. Er hat versprochen zu helfen und kontaktiert zahlreiche Politiker, darunter Bundeskanzler, Wirtschaftsminister, Finanzminister, Ministerpräsidenten. Helmut Kohl, Lothar Späth, Johannes Rau, Oskar Lafontaine, Franz Josef Strauß, Theo Waigel. Bei Treffen von BRD-Vertretern mit der SED-Führung sollen unsere Namen auf der Liste stehen, welche die West-Politiker ihren Ost-Kollegen bei solchen Gelegenheiten mit der Bitte um Beachtung des Ausreisewunsches übergeben. Auch Kirche, Caritas oder die Rechtsanwältin Barbara Gräfin von der Schulenburg, die sich im Auftrag des Westens um Ausreiseanträge kümmert, erhalten Briefe aus Ulm.

Etwa 100.000 Mark für einen „Freikauf“

Das Muster ist das gleiche. Wir Schmidts wollen aufgrund von Familienzusammenführung und Pflege der Oma mütterlicherseits – sie lebt in Friedrichshafen – in den Westen. Die meisten Antworten weisen ebenfalls das gleiche Muster auf. Man wolle in Gesprächen mit SED-lern darauf hinweisen, man versuche Härtefalllisten zu übergeben, einzelne Fälle anzusprechen. Versprechen könne man das aber nicht. Zudem werde der Fall an das zuständige Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen weitergeleitet.

In dem Ordner wird außerdem klar, dass sich Theo Waigel in besonderem Maße einsetzt. Mehrere Briefe des damaligen CSU-Landesgruppenchefs und späteren Bundesfinanzministers führen jedenfalls zu dieser Schlussfolgerung, weshalb meine Eltern im Westen lange Jahre den Christsozialen die Treue halten werden. Er habe viele solcher Bittbriefe erhalten und sei auch bei seinen Besuchen im Osten von DDR-Bürgern direkt angesprochen worden, sagt Theo Waigel im Interview. Er kann sich an unseren Fall im Speziellen nicht mehr erinnern, weiß aber viel über die Ausreisethematik im Allgemeinen zu berichten. „Das ‚Freikaufen’ war ein wichtiges und notwendiges Programm abseits der Öffentlichkeit. Man musste Diskretion wahren, um die Menschen nicht zu gefährden.“ Etwa 100.000 Mark habe die DDR für einen „Freikauf“ bekommen, insgesamt eine wichtige Einnahmequelle für das SED-Regime.

„Mit Riesenangst hin, mit Riesenmotivation zurück“

Im Telefonat mit Waigel wird deutlich, dass der Milliardenkredit für die DDR, den Franz Josef Strauß 1983 eingefädelt hatte, offenbar auch ein Glück für uns war. Dadurch seien die SED-Funktionäre Ansinnen der CSU „stärker nachgekommen“ als anderen. Vielleicht hat uns das ja auch geholfen. Beim Durchblättern des Ausreise-Ordners fällt indes auf, dass der Antrag erwartungsgemäß nicht ohne Folgen bleibt. Der Druck der Stasi nimmt zu, beinahe wöchentlich müssen meine Eltern antanzen. Uns Kinder vertrauen sie zur Sicherheit stets Freunden an. „Das Schlimmste war, dass wir immer unseren Personalausweis abgeben mussten“, sagt mein Papa. „Da war man ja staatenlos und wusste: Jetzt können die alles mit einem machen.“ In diesen sogenannten Zurückdrängungsgesprächen betonen die Mitarbeiter der Staatssicherheit, dass wir keine Chance auf Ausreise hätten, wir Kinder potenzielle Soldaten seien, unsere Familie niemals ausreisen dürfe. „Ich war immer neben der Spur“, sagt meine Mama. Sie habe stets geschwiegen, meinen Dad ab und an unter dem Tisch getreten. Trotz des Psychoterrors verfestigen die Gespräche den Ausreisewunsch. „Man ist mit einer Riesenangst hin, aber mit einer Riesenmotivation zurück“, sagt mein Vater, und meine Mutter ergänzt: „Das hat uns bestätigt, dass wir alles richtig machen.“

Die Briefe in dem Ordner belegen darüber hinaus, dass die Stasi zunehmend auch uns Kinder bearbeitet und der Antrag nicht nur psychologische Konsequenzen hat. Mein Vater ist inzwischen erkrankt, eine Operation am Schultermuskel soll helfen. Einen Tag vor dem OP-Termin verhindert die Stasi den Eingriff – mit einer deutlichen Ansage, wie er sich erinnert: „Solche Subjekte werden bei uns nicht medizinisch versorgt.“

Die Aussicht auf Genehmigung schwindet

Angst und Vorsicht sind ständige Begleiter, Spitzel, die um unser Haus schleichen, gehören zum Alltag. „Wir hatten aber das Glück, dass wir auf der innerdeutschen Liste standen, daher hatten wir zumindest etwas Sicherheit“, sagt mein Dad. Meine Mom hört in der Folge auf zu arbeiten. Offiziell, um meinem Bruder in der Schule beizustehen. Vor allem aber soll das die Ausreisechancen erhöhen. Die Schmidtsche Rechnung: Weniger Arbeitskraft sind gleich weniger Gründe, die Familie im Land zu halten. Auch Überlegungen, für meinen Vater einen Invaliditätsantrag wegen seines Schulterproblems zu stellen, kursieren laut den Briefen in dem Ordner. Daran können sich meine Eltern aber nicht mehr erinnern.

Beim Studieren der Dokumente fällt zudem auf, dass die Aussicht auf Genehmigung der Ausreise schwindet, unter anderem weil ein Orthopäde als Mangelberuf in der DDR angesehen ist, dies einer zügigen Bearbeitung des Antrags durch die Ostbehörden demnach entgegensteht. Dass die Chancen zunehmend schlechter werden, weiß unsere Familie nur am Rande, den Ordner mit den Briefen werden wir erst in der BRD erhalten.

„Wir haben die Sarah-Ferguson-Bettdecken zum Lüften rausgehängt“

Das ist möglich, weil sich am Ende das Durchhaltevermögen und der Einsatz der Helfer auszahlen. „Aus der DDR erreichte mich der Hinweis, daß über den Ausreisewunsch der Antragsteller positiv entschieden worden sei“, steht in einem Brief vom 24. Juni 1988 an unseren Familienfreund Werner Sauter – unterschrieben hat ihn Johannes Rau, damals Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Sauter ruft bei uns in Magdeburg an: „Wir haben die Sarah Ferguson-Bettdecken zum Lüften rausgehängt.“ Meine Eltern nehmen den Hinweis aber nicht wahr. Dabei haben sie und mein Patenonkel diesen Satz als Geheimsprache vereinbart, wenn die Genehmigung der Ausreise vorliegt.

Wir fahren in den Urlaub an die Ostsee, dorthin schickt die Kirche ein Telegramm: Meine Eltern mögen umgehend nach Berlin kommen. Wir brechen den Urlaub ab, hoffen auf eine gute Nachricht – und werden enttäuscht. Die Kirchenvertreter raten, den Antrag zurückzunehmen. Niemals, denken sich meine Eltern. Erfreulicherweise. Denn wenig später, am 19. Juli 1988, erhalten sie bei der Stasi einen Laufzettel, mit dem sie sich binnen weniger Stunden bei allen öffentlichen Behörden abmelden müssen. Nur dann sei die Ausreise möglich. Am Folgetag müssen sie morgens die Ausweise bei der Polizei abgeben – mit dem Hinweis: „Sie sind nun staatenlos. Wenn ihnen etwas passiert, bekommen sie keine medizinische Versorgung mehr.“ Die Anspannung drängt die Angst in den Hintergrund, es zählt nur, die DDR bis 24 Uhr zu verlassen.

„Die Häuser sind hier so weiß“

Organisatorische Hürden (Fahr- und Platzkarten für den Zug) beschweren diese letzte Etappe auf dem Weg in die Freiheit genauso wie psychische (Abschließen der Waggons, Kontrolle von Mund und Haar an der Grenze, Tippeln der Hundepfoten auf dem Zug, mein Geheule bei der kurzzeitigen Trennung am Grenzübergang). Doch 30 Monate nach dem Stellen des Ausreiseantrags überquert unsere Familie erstmals die innerdeutsche Grenze, meine Eltern realisieren das erst, als mein Bruder Benjamin sagt: „Die Häuser sind hier so weiß.“ Wenig später betreten wir Vier westdeutschen Boden – und plötzlich kann mein Vater ohne Schulterschmerzen wieder Koffer tragen. Bis der Druck komplett abfällt, werden noch einige Monate vergehen,und ganz aus den Klamotten sind die Erfahrungen von damals bis heute nicht.

Auf dem leicht vergilbten Blatt gegen Ende des Ordners, einer Art Chronik des Schmidtschen Ausreisejahres, steht als vorweihnachtliches Geschenk: „19.12.88 Vertrag für Gemeinschaftspraxis unterschrieben.“ Spätestens mit der beruflichen Integration ist die Zukunft im Westen geebnet – und dass die Mauer im November des Folgejahres fällt, schmälert die Ausreisefreude keineswegs, wie meine Eltern unisono betonen: „Jede Stunde hat sich gelohnt.“

Einen lesenswerten Text zum Thema Ausreise aus der DDR von der Bundeszentrale für politische Bildung finden Sie unter https://bit.ly/2CQ6zjF

Destabilisierung des SED-Regimes

Zahlen: Die Geschichte von Flucht und Ausreise zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Bestehen der DDR. Von der Gründung 1949 bis zum Ende 1989 verließen laut Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) von 17 Millionen Bürgern 3,5 bis vier Millionen den Osten gen Westen – die meisten vor dem Mauerbau.

Gruppendynamik: Nach dem UNO-Beitritt 1973 und der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte 1975 in Helsinki, wodurch ausreisewillige DDR-Bürger mit dem Recht auf Freizügigkeit argumentierten, stieg besonders die Zahl der „Anträge auf ständige Ausreise“. Die Staatsorgane reagierten meist mit Repressionen wie Jobverlust der Antragssteller. Dennoch traten die Ausreisewilligen zunehmend öffentlich auf, verdeutlichten ihren Wunsch durch Symbole, organisierten sich in Gruppen – wie die „weißen Kreise“ – und demonstrierten für ihr Begehren.

Integrationsgeschichte: In den 1980er-Jahren wuchs eine regelrechte Ausreisewelle an. Die „Genehmigung“ eines Antrags ermunterte andere, die Agitation der Ausreisewilligen war insgesamt ein wesentlicher Destabilisierungsfaktor für die SED-Führung und mischte sich mit in die Montagsdemonstrationen, wo der Zusammenbruch der DDR seinen Lauf nahm – Migrationsfolgen inklusive. „Übersiedler, die per Ausreiseantrag die DDR verließen, haben auf ‚leise’ Art und Weise Integrationsgeschichte geschrieben“, schreibt die bpb.

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