1954 werden in der Pliensauvorstadt die ersten Hochhäuser in Esslingen gebaut. Foto: Stadtarchiv Esslingen - Stadtarchiv Esslingen

Als Mitglieder der Gruppe Stadtgefährten spüren Dagmar Hanussek, Martin Huber und Andreas Jacobson der Geschichte ihres Stadtteils nach.

ES-PliensauvorstadtDie Karl-Pfaff-Straße ist heute eine Wohnstraße wie viele andere in der Pliensauvorstadt. In den 50er-Jahren reihte sich dort jedoch ein Geschäft ans andere, haben Dagmar Hanussek, Martin Huber und Andreas Jacobson herausgefunden. Sie sind Mitglieder der Gruppe Stadtgefährten und somit Teil des Projekts „Viele Teile, eine Stadt“, in dem ehrenamtlich Engagierte in allen Stadtteilen der Ortsgeschichte nachspüren (siehe Anhang). Die Stadtgefährten aus der Vorstadt haben bereits einige historische Fotos und Fakten gesammelt, die von der Aufbruchstimmung in den Nachkriegsjahren zeugen. Nun wollen sie erkunden, wie die Bewohner in den 50er- und 60er-Jahren gelebt und ihren Alltag gestaltet haben.

Mehr als nur der tägliche Bedarf

Da die Stadt Esslingen den Zweiten Weltkrieg nahezu unzerstört überstanden hatte, zog es nach Kriegsende viele Flüchtlinge und Heimatvertriebene an den Neckar. Bis 1947 zählte man rund 47 000 Neubürger, die zumeist aus den ehemals deutschen Ostgebieten kamen. „Weil man die Menschen ja möglichst schnell unterbringen musste, wurde die Pliensauvorstadt stark aufgesiedelt“, berichtet Dagmar Hanussek. War an der Karl-Pfaff-Straße vor dem Krieg Ende Gelände, dehnte sich der Stadtteil ab den 50er-Jahren immer weiter Richtung Weil aus. Alleine zwischen 1953 und 1957 wurden 1420 neue Wohnungen gebaut. Mit den Flüwo-Häusern an der Stuttgarter Straße wuchsen 1954 zudem die ersten Hochhäuser Esslingens gen Himmel. „Die Häuser waren hochmodern, denn sie hatten Bäder, Aufzüge, Zentralheizung und sogar schon Müllschlucker“, weiß Dagmar Hanussek. „Das hat damals in der gesamten Stadt für viel Aufsehen gesorgt.“

Doch die Menschen wohnten nicht nur in der Pliensauvorstadt, die seit 1950 in der städtischen Statistik als eigenständiger Stadtteil auftaucht. Viele verdienten dort ihren Lebensunterhalt. Auch in der Freizeit mussten sich die Bewohner nicht unbedingt auf den Weg in die Innenstadt machen. Ihnen standen eine Leihbücherei, ein Kino, eine Tanzschule sowie zwölf Gaststätten offen. „Bei der Recherche haben uns die alten Adressbücher geholfen, in denen jeder Bewohner, jede Firma, jedes Geschäft und jede Kneipe aufgeführt ist“, berichtet Andreas Jacobson. Und es gab jede Menge Läden – in der Karl-Pfaff-Straße ebenso wie in der Stuttgarter Straße. Wird heute über Lücken in der Nahversorgung geklagt, bekam man 1958 in der Vorstadt weit mehr als nur die Dinge des täglichen Bedarfs. Neben 14 Lebensmittelgeschäften, fünf Bäckern und vier Metzgern hatten sich Läden mit Drogerieartikeln, Papierwaren, Uhren, Textilien und Schuhen niedergelassen. „Vor allem im Textilbereich gab es extrem viele Läden und Schneidereien“, sagt Dagmar Hanussek. Bei ihren Recherchen sind die Hobbyhistoriker auch auf skurrile Geschäftsideen gestoßen. So haben sie eine Mietwaschküche sowie neun Flaschenbierhandlungen entdeckt.

Verkehrsmisere

Bemerkenswert findet Martin Huber, dass man in den Adressbüchern Ende der 50er-Jahre „bereits elf Betriebe findet, die sich mit Autos beschäftigt haben. Denn wer hatte damals schon ein Auto?“ Die große Zahl an Werkstätten und Reifenhandlungen lässt sich vielleicht mit dem Durchgangsverkehr erklären. „Die B 10 endete 1959 an der Karl-Paff-Straße und so kurvten alle durch die Pliensauvorstadt“, sagt Dagmar Hanussek. „Das war eine richtige Verkehrsmisere, unter der der Stadtteil sehr gelitten hat.“ Der Tunnel unter der Pliensaubrücke wurde erst 1970 vollendet, und es sollte weitere fünf Jahre dauern, bis auch die Ausfahrt Stadtmitte fertig war.

Geschichtsinteressierte sind willkommen

Ausstellung: Jeder Esslinger Stadtteil hat seine eigene Geschichte. Im Museum sind die Stadtteile aber kaum präsent. Genau dort setzt das Projekt „Viele Teile, eine Stadt“ an, das unter anderem von der Kulturstiftung des Bundes gefördert wird. Die hat unter der Überschrift Stadtgefährten einen Fonds für städtische Museen eingerichtet. In Esslingen leitet Julia Opitz das Projekt. Sie ermutigt die Bürgerinnen und Bürger in allen Stadtteilen, die örtliche Historie zu erforschen. Spätestens im Frühjahr 2020 müssen die Projektgruppen ihre Arbeit vollendet haben. Denn dann werden die Stadtgefährten ihre Ergebnisse in einer Ausstellung im Stadtmuseum präsentieren. Wer Kontakt zu den Arbeitsgruppen im jeweiligen Stadtteil knüpfen möchte, kann der Projektleiterin eine Mail schreiben – julia.opitz@esslingen.de – oder sie anrufen: 0711/3512-3241.

Vorstadtgeschichte(n): Die Stadtgefährten aus der Pliensauvorstadt interessiert das Leben in der Nachkriegszeit. Deshalb suchen sie Fotos aus den 50er- und 60er-Jahren, auf denen Läden und Betriebe (gerne mit Belegschaft oder Kunden) sowie Gaststätten oder auch das Leben auf den Straßen zu sehen sind. Zeitzeugen, die Geschichten aus der Nachkriegszeit beisteuern können, sind der Projektgruppe ebenso willkommen wie historisch Interessierte, die in der Gruppe mitarbeiten möchten. Kontakt bekommt man über Martin Huber, Telefon 0711/481672 oder Dagmar Hanussek, E-Mail: hanussek@gmx.de