Urmila Chaudhary war selbst zwölf Jahre lang Kindersklavin. Heute setzt sie sich unter persönlicher Gefahr für die Mädchen ein. Foto: oh Quelle: Unbekannt

Am kommenden Sonntag wird im Esslinger Neckar Forum der Theodor-Haecker-Preis für politischen Mut und Aufrichtigkeit an die nepalesische Menschenrechtsaktivistin Urmila Chaudhary verliehen. Die Stadt Esslingen würdigt mit dem internationalen Menschenrechtspreis das Engagement von Urmila Chaudhary für die Rechte versklavter Mädchen in Nepal. Im Interview berichtet die mutige Frau über die Situation in ihrem Land und über ihren Kampf gegen das System der Ausbeutung.

In Nepal werden jährlich etwa 20 000 Mädchen zwischen acht und 18 Jahren verkauft. Haben Mädchen und Frauen in Nepal keine Rechte?

Chaudhary: Es gibt viele Gesetze in Nepal, auch eines gegen Menschenhandel. Das größte Problem dabei ist, dass diese Gesetze nicht streng genug umgesetzt werden. Armut, fehlende Bildung und kein Bewusstsein für die Konsequenzen, besonders in den ländlichen Gegenden Nepals, sind weitere Faktoren. Viele Mädchen werden mit falschen Hoffnungen auf eine Anstellung verkauft und enden schließlich im Bordell. Kamalari-Mädchen werden von ihren Eltern verkauft, um als Haushaltssklavinnen in Hotels, Restaurants und den Häusern von Großgrundbesitzern zu arbeiten.

Sie haben Kindersklavinnen befreit. Wie muss man sich das ganz konkret vorstellen?

Chaudhary:In meiner Volksgruppe, den Tharu im Westen Nepals, werden Mädchen von ihren Familien als Haushaltssklavinnen an reiche Haushalte verkauft. Diese Mädchen nennt man Kamalaris. Ich selbst war zwölf Jahre lang eine Kamalari. Bis vor zehn Jahren kamen die Menschen in Scharen in die Tharu-Dörfer, um die Mädchen während des Maghi-Festivals, dem Neujahrfest der Tharu, zu kaufen. Die versklavten Mädchen mussten schwere Misshandlungen durchstehen, physisch und verbal. Viele wurden sexuell missbraucht und manche starben. Es besteht der Verdacht auf Mord. Manche sind verschwunden. Die Bewegung zur Abschaffung der Kamalari-Praxis begann im Jahr 2000. Wir besuchten jede Familie einzeln und überredeten sie, ihre Töchter nicht als Kamalari zu verkaufen. Die Nepal Youth Foundation belohnte jede Familie, die versprach, ihre Töchter zu behalten, mit einem Ferkel und vergab Stipendien, um diesen Mädchen eine Schulausbildung zu ermöglichen. Wir führten Straßentheater auf und Aufklärungskampagnen durch, um die Familien zu ermutigen, ihre Töchter zuhause zu behalten. ,Töchter brauchen Bildung, keine Sklaverei‘ war unser Slogan. Viele Menschen kauften die Mädchen aber trotzdem heimlich. Also haben wir die Straßen und Busparkplätze bewacht und kontrolliert. So haben wir tausende Mädchen gerettet.

Hatten Sie Hilfe?

Chaudhary:Wir haben außerdem die Haushalte gesucht, in denen Kamalari gehalten wurden, sind direkt hingegangen und haben die Mädchen rausgeholt - normalerweise nach hitzigen Konfrontationen mit den ,Herren‘. Nach einigen Jahren hat die Regierung unsere Aktivitäten unterstützt, und wir arbeiteten mit der Polizei und den offiziellen Stellen zusammen, um die Mädchen zu retten.

Es ist wie überall auf der Welt: Schule und Ausbildung sind der Weg zu einem selbstbestimmten Leben. Sie setzen sich für die Bildung ehemals versklavter Mädchen ein. Wie geschieht das, und gibt es Erfolge?

Chaudhary: Wir arbeiten im Glauben daran, dass Bildung den Teufelskreis aus Armut und Sklaverei durchbrechen kann. Nachdem die Mädchen gerettet und nach Hause zurückgebracht wurden, melden wir sie in den Schulen an. Diejenigen, die schon zu alt für die Schule sind, bekommen eine berufliche Ausbildung. Junge erwachsene Mädchen werden dazu animiert, Kleinunternehmerinnen zu werden. Mittlerweile sind 13 000 Mädchen aus der Sklaverei befreit worden und führen heute würdevolle Leben. Wir gehen zur Schule und haben uns in einer Initiative gegen die Sklaverei zusammengeschlossen. Unser Ziel ist es sicherzustellen, dass kein Mädchen jemals wieder zu einer Kamalari wird.

Wo Sklavenhandel im Spiel ist, da ist Gewalt nicht weit. Wie groß ist die Gefahr durch Ihr Engagement für Sie selbst?

Chaudhary: Während der frühen Jahre unserer Bewegungen war ich zahlreichen Drohungen ausgesetzt, verbaler und physischer Natur. Ich bin brutal angegriffen worden. Erst kürzlich wurde ein Mädchen, das als Haushälterin im Haus eines Regierungsbeamten arbeitet, schlimm verbrannt. Der Arbeitgeber behauptete, dass es sich um einen Unfall handelte, aber ich habe den Fall der Polizei gemeldet. Als ich morgens in der Dunkelheit zur Schule ging, wurde ich plötzlich brutal von einer Gruppe von Jungen angegriffen. Ich wehrte mich und rief laut um Hilfe. Sie würgten mich und warfen mich von der Straße, bevor sie wegrannten. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Angriff mit meinem Vorgehen gegen den Verbrennungsfall zu tun hat. Der Regierungsbeamte, um den es sich handelt, war ein einflussreicher Mann. Ich werde häufig bedroht, aber anstatt mich einschüchtern zu lassen, ermutigt mich das, meine Mission weiterzuführen.

Die Versklavung von Mädchen kann doch nur dann zu einem guten Geschäft werden, wenn viele Leute wegsehen. Die Politiker zum Beispiel. Ist der Staat machtlos, oder will er gar nichts tun?

Chaudhary: Unser Staat bemüht sich in dieser Angelegenheit, und wir sind sehr froh, dass wir immer mehr Unterstützung durch die Regierung erhalten. Es ist eine große Herausforderung, dass die Versklavung tief in der Gesellschaft verankert ist und es immer viel Zeit braucht, um eine Gesellschaft zu verändern. Aber die Gesellschaft wird sich definitiv verändern.

Was sind das eigentlich für Menschen, die Mädchen in Sklavenschaft und in Bordelle verkaufen? Welche Umstände führen dazu?

Chaudhary: Das Kamalari-System der Mädchenversklavung hat eine lange Tradition. Das Volk der Tharu, das im Terai lebt, ist sehr arm. Wir haben kein Land. Tharu-Männer und ihre Familien arbeiteten als Feldarbeiter für die reichen Großgrundbesitzer. Das war die einzige Möglichkeit, an Nahrung zu kommen und zu überleben. Diese Zwangsarbeiter wurden Kamaiya genannt. Die Großgrundbesitzer erlaubten ihnen nur dann auf ihrem Land zu arbeiten, wenn sie ihre Töchter in die häusliche Sklaverei schickten. So hat das Kamalari-System begonnen. Später haben auch andere reiche Familien, nicht nur die Großgrundbesitzer, begonnen, die Mädchen als Kamalaris zu kaufen. Meine gesamte Familie - meine Mutter, mein Vater, meine Schwestern und Brüder - alle waren versklavt. Die Knechtschaft wird von Generation zu Generation vererbt. Obwohl das Kamaiya-System im Jahr 2000 abgeschafft wurde, ging das Kamalari-System weiter. Erst 2013 wurde es offiziell verboten. Die Menschen, die die Kamalaris kauften, waren reiche Grundbesitzer, einflussreiche Geschäftsmänner, Regierungsvertreter oder andere.

Welche Rolle spielt die Prostitution?

Chaudhary: Wenn es um Bordelle und Prostitution geht, so handelt es sich meistens um Mädchen aus ländlichen Dörfern, die in die Sexindustrie verkauft werden. Manchmal kommen Menschen aus den Städten in die Dörfer und locken die Mädchen, die überwiegend ungebildet und naiv sind, mit Versprechungen über Anstellungen in die Städte oder sogar in andere Länder. Oft sind es aber sogar Verwandte der Mädchen, die sie verkaufen.

Uns ist Nepal vor allem als touristisches Ziel ein Begriff. Der Himalaya lockt die Bergsteiger aus aller Welt. Kriegen die überhaupt nichts mit von den Menschenrechtsverstößen?

Chauhary: Touristen besuchen nur bestimmte Gebiete in Nepal, die als Touristenattraktionen bekannt sind. Die meisten von ihnen haben nicht die Gelegenheit oder die Zeit, um sich unmittelbar mit der Bevölkerung auseinanderzusetzen. Manche Touristen und Bergsteiger haben die Armut des Landes aber bemerkt und geholfen, so besonders dem Sherpa-Volk aus den Bergen, das mittlerweile sehr wichtig ist in der Bergsteigerindustrie. Olga Murray, die Gründerin der Nepal Youth Foundation - die Organisation, die die Bewegung gegen das Kamalari-System startete -, hat Nepal selbst das erste Mal als Touristin besucht und kam zurück, um hier zu arbeiten, nachdem sie die unvorstellbare Armut und das Elend der Menschen auf ihrer Wanderung gesehen hatte.

Was bedeutet Ihnen die Auszeichnung mit dem Theodor-Haecker-Preis?

Chaudhary: Ich fühle mich tief geehrt, mit solch einem angesehenen Preis ausgezeichnet zu werden. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass ich von offizieller, deutscher Seite so geehrt werde. Dieser Preis motiviert mich, und ich empfinde es so, dass sich meine Verantwortung dadurch vergrößert.

Was treibt Sie an, sich immer wieder für die Mädchen und Frauen einzusetzen?

Chaudhary:Ich war zwölf Jahre lang eine Kindersklavin, darum fühle ich sehr mit den Mädchen, die ähnliche Erfahrungen machen müssen. Ich habe auch erlebt, dass Veränderung möglich ist. Ich selbst bin das lebende Beispiel dafür, und das motiviert mich dazu, anderen die gleichen Möglichkeiten zu schaffen. Und wenn mir andere Menschen Anerkennung und Hilfe zusprechen, wie zum Beispiel durch die Überreichung dieses Preises, fühle ich mich stark motiviert, weiterzumachen.

Die Fragen stellte Christian Dörmann.

preisverleihung - Diskussionsabend - Dokumentarfilm - ehrengabe

Der Theodor-Haecker-Preis wird am kommenden Sonntag, 2. Juli, an die nepalesische Menschenrechtsaktivistin Urmila Chaudhary vergeben. Die öffentliche Veranstaltung beginnt um 11 Uhr im Esslinger Neckar Forum. Die Laudatio auf die Preisträgerin hält Gabór Halász, der in den Jahren von 2012 bis 2017 Südasien-Korrespondent im ARD-Studio Neu Delhi war.

Urmila Chaudhary erhält den Internationalen Menschenrechtspreis der Stadt Esslingen für ihren Einsatz für die Befreiung, für Rechte und Bildung versklavter Mädchen in Nepal. Sie wurde zur Hoffnungsträgerin der sogenannten Kamalari, der Kindersklavinnen. Mit der Zuerkennung des Preises wird auch Urmila Chaudharys Arbeit für die Organisation Freed Kamalari Develop Forum gewürdigt. Gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen befreit sie zum Teil unter persönlichem Risiko Kindersklavinnen und gibt ihnen die Chance auf Schule und Ausbildung.

Neben der Preisverleihung ist Urmila Chaudhary am Sonntag ab 18 Uhr in der Volkshochschule Esslingen zu erleben. Sie spricht dort mit Irene Jung von terres des femmes über die Frage „Nepal - eine Demokratie ohne Frauenrechte?“. Am Dienstag, 4. Juli, 19 Uhr, zeigt das Kommunale Kino Esslingen einen Dokumentarfilm über Urmila Chaudhary mit dem Titel „Urmila - für die Freiheit“. Im Anschluss an den Film unterhält sich die Preisträgerin mit Bernhard Wiesmeier von der Volkshochschule über ihre Arbeit und ihre Geschichte.

Die Ehrengabezum Theodor-Haecker-Preis erhält am Sonntag das Projekt „Heroes - gegen Unterdrückung im Namen der Ehre“ aus Berlin. Über das Projekt werden junge Männer aus Ehrenkulturen ausgebildet, die sich mit überkommenen Vorstellungen von Ehre und Männlichkeit, mit Identität, Geschlechterrollen und Menschenrechten auseinandersetzen.