Morgen gibt es Zeugnisse, und längst nicht jedes Kind wird die erhofften Zensuren nach Hause bringen. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Endlich Ferien! Manche Schüler werden dem letzten Schultag jedoch mit gemischten Gefühlen entgegensehen, weil ihre Zeugnisse nicht nur Freude bringen. Da dürfte der Ärger zuhause vorprogrammiert sein. Simone Langendörfer ist Expertin für mentale Stärke und Achtsamkeit. Und sie setzt sich besonders für Kinder und Jugendliche in schwierigen Situationen ein. Im Gespräch mit unserer Zeitung erklärt die Esslinger Beraterin und Autorin, was Eltern vor dem Zeugnistag bedenken sollten und wie sie ihren Kindern bei schlechten Noten konstruktiv helfen können.

Was sollten Eltern beachten, wenn die Noten ihrer Kinder den Erwartungen nicht entsprechen?

Langendörfer: Kinder brauchen die Liebe ihrer Eltern wie die Luft zum Atmen. Kinder fühlen sich schnell als Versager, wenn sie den Erwartungen nicht entsprechen. Das führt zu einem instabilen Selbstwertgefühl, was die Situation noch verschlimmert, weil die Kinder immer mehr Druck auf sich selbst ausüben und so auch körperliche Symptome entstehen, wie Kopfschmerzen, Schlafstörungen und Bauchschmerzen.

Was geht in Kindern vor, die in der Schule Misserfolge ernten?

Langendörfer: Kinder beginnen früh, sich mit anderen zu vergleichen. Das kann sehr frustrierend sein - besonders, weil Schulnoten oft eine fehlerhafte Beurteilung sind: Jedes Kind hat Talente und Begabungen, die durch Schulnoten nicht transparent gemacht werden. Wenn sich Misserfolge durch schlechte Zensuren häufen und ein Sitzenbleiben droht, fühlen sich viele Kinder ohnmächtig und den eigenen Zweifeln und Ängsten hilflos ausgeliefert.

Wie können Eltern ihren Kindern helfen, ein schlechtes Zeugnis besser zu verkraften?

Langendörfer: Die bedingungslose Liebe der Eltern ist die Seelennahrung eines Kindes. Die besten Hilfen der Eltern sind das Verständnis, die Liebe, die Geborgenheit, die Sicherheit und das ehrliche Interesse. Ein Kind sollte um seiner selbst willen von Herzen geliebt werden. Ein schlechtes Zeugnis hat viele Ursachen. Darüber sollten Eltern mit ihrem Kind offen sprechen. Vertrauen ist hier Voraussetzung. Kinder, die sich sicher fühlen, haben den Mut, über ihre Ängste zu sprechen.

Manche Eltern glauben, ihre Kinder durch Druck zu besseren Zensuren anspornen zu können. Wie findet man den richtigen Weg zwischen Ansporn und Druck?

Langendörfer: Druck entsteht immer durch Unsicherheit und Angst. Motivation und Leistungsbereitschaft entstehen nie durch Druck. Auch Strafen führen niemals zum gewünschten Erfolg. Genauso sind Bewegungsmangel und stundenlanges Sitzen an den Hausaufgaben kontraproduktiv. Kinder lernen von Natur aus gerne. Sie sind interessiert und neugierig. Wenn jedoch Lernen nur den Sinn hat, gute Noten zu bekommen, verweigern sich viele Kinder und verlieren die Freude und Motivation. Der Begriff „Bulimielernen“ spricht für sich.

Sollten Kinder, die schlechte Noten mit nach Hause bringen, die Ferien zum Lernen nutzen?

Langendörfer: Ganz klar: Nein. Der Alltag der meisten Schulkinder ist sehr eng getaktet. Ein Termin jagt den anderen. Viele Hobbys kommen zu kurz, weil die Zeit nicht ausreicht. Die Ferien sollten dazu genutzt werden, um die Akkus wieder aufzuladen. Die beste Vorbereitung auf die nächste Klasse ist es, das Kraft tanken für die neuen Aufgaben, die dann mit neuem Elan begonnen werden können.

Sind schlechte Noten manchmal auch hausgemacht, weil Eltern ihre Kinder überfordern?

Langendörfer: Viele Eltern haben sehr genaue Zukunftspläne und Vorstellungen und wünschen sich ein perfektes Kind. In Anbetracht der virtuellen Auslese und Online-Bewerbungsverfahren von Unternehmen und Hochschulen meinen viele Eltern, ihr Kind hätte nur mit den besten Schulnoten eine Chance. Das macht Eltern Angst, und sie sehen einen Ausweg nur darin, das Kind zu mehr und besserer Leistung zu ermahnen. Damit überfordern sie oft ihr Kind. Die Folge sind schlechte Noten. Man sollte die Individualität des Kindes wertschätzen und akzeptieren. Viele Leistungsträger unserer Gesellschaft waren schlechte Schüler und konnten dennoch durch herausragende Biografien überzeugen. Dies sollten wir uns immer bewusst machen.

War die verbindliche Grundschulempfehlung ein wirksames Mittel, damit Grundschüler den richtigen Weg einschlagen?

Langendörfer: Die verbindliche Grundschulempfehlung kann ein Wegweiser sein. Das Gespräch mit der Lehrerin oder dem Lehrer sollte vorurteilsfrei und vertrauensvoll sein, wenn es darum geht, die geeignete weiterführende Schule zu finden. Das Abitur ist niemals die Garantie für ein erfolgreiches Berufsleben. Sinnvoll ist es, die eigene Erwartungshaltung zu überprüfen. Zu einem sinnhaften, erfüllten Leben gehören viele Faktoren.

Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Aber ist die bestmögliche Schule wirklich immer das Beste?

Langendörfer: Das Beste ist ein stabiler Selbstwert. Kinder, die voller Zuversicht und Vertrauen sind, werden ihren Weg gehen. Was ist die bestmögliche Schule? Viele Parameter sind für den schulischen Erfolg wichtig: Das Verhältnis zum einzelnen Lehrer, die Art des Unterrichts, die Freude am Lernen, das soziale Umfeld und Freundschaften. Wenn Eltern das Beste für ihr Kind tun wollen, sollten sie ihm Sicherheit vermitteln. Die Geborgenheit, die ein Kind in der eigenen Familie erlebt, macht stark. Die bestmögliche Schule ist die, in die das Kind mit Freude geht und wo es einen respektvollen und wertschätzenden Umgang erfährt.

Oft ist der Zeugnisstress zu Beginn der Ferien nicht das einzige Problem in vielen Familien: Die Urlaubsvorbereitungen und beruflicher Stress tun ein Übriges. Was raten Sie Familien, um diese Jahreszeit besser zu überstehen?

Langendörfer: Ich rate Familien, ein Bewusstsein für die individuellen Stressfaktoren zu entwickeln. Zu viel Druck macht aggressiv, unruhig und gereizt. Viel sinnvoller wäre es, die Vorfreude auf den gemeinsamen Urlaub zu genießen und in Urlaubsstimmung zu kommen. Meist entsteht Stress, wenn man sich zu viele Aufgaben in den Tag reinpackt. Weniger ist auch hier mehr: Es muss nicht alles perfekt sein.

Warum fühlen sich immer mehr Lehrer unter Druck, wenn Kinder nicht so funktionieren, wie es die Eltern wollen?

Langendörfer: Viele Eltern haben Angst, dass der berufliche Erfolgsweg des eigenen Kindes scheitern könnte, wenn die Noten nicht gut genug sind. Der Druck wird auf die Lehrer übertragen. Immer mehr Lehrer kommen an ihr persönliches Kräftelimit. Die Erwartungen, die seitens der Familien an sie gestellt werden, sind oft zu hoch. Offensichtlich stehen Kinder, Lehrer und Eltern unter einem immer größer werdenden Erfolgsdruck, der viel Leid verursacht. Hier wäre es sehr hilfreich, sich zu besinnen und mitfühlender und menschlicher miteinander umzugehen. Druck ist immer kontraproduktiv.

Was können Lehrer tun, um vor der Zeugnisausgabe etwas Druck aus dem Kessel zu nehmen?

Langendörfer: Zeugnisse sind immer Bewertungen und Beurteilungen. Schulnoten erschaffen automatisch Verlierer. Der Tag der Zeugnisausgabe ist für viele Kinder mit Versagensängsten verbunden. Lehrer können nur begrenzt Druck rausnehmen. Für ein Kind ist entscheidend, wie die Stimmung zu Hause ist. Wie reagieren die Eltern? Wird das Kind kritisiert oder sogar bestraft oder beschimpft? Wird es liebevoll angenommen? Werden die Zeugnisse überbewertet und als Druckmittel benutzt? Besonders für Sitzenbleiber ist der Zeugnistag oft überaus schmerzhaft. Denn es gilt, Abschied zu nehmen von Freunden und mit schlechtem Zeugnis nach Hause zu gehen. Ich wünsche mir, dass Eltern und Lehrer erkennen: Erfolgsdruck und eine zu hohe Erwartungshaltung führen immer zu Angst und Unsicherheit. Schulnoten führen zu Konkurrenzdenken unter den Kindern. Es gibt Gewinner und Verlierer. Das Lebensglück unserer Kinder liegt in unseren Händen. Wir können Kinder durch unsere Liebe stärken. Wenn wir diese Chance jeden Tag nutzen, ist das die beste Investition in die Zukunft unserer Kinder!

Interview: Alexander Maier