Christopher Schmidt Foto: Brauers - Brauers

Christopher Schmidt hat sich bundesweit mit Bürgerbegehren beschäftigt. Sie seien keine Allheilmittel, aber wichtige Ergänzungen zur repräsentativen Demokratie.

EsslingenDie Wellen schlugen hoch, als Ulrike Gräter, Wolfgang Drexler und Klaus Hummel nur wenige Stunden nach der Gemeinderatsentscheidung für einen Neubau der Esslinger Stadtbücherei ein Bürgerbegehren auf den Weg brachten. Sie wollen erreichen, dass die Stadt die bisherige Bibliothek im Bebenhäuser Pfleghof modernisiert und erweitert, was viele Esslinger wollen. Christopher Schmidt, Professor an der Hochschule Esslingen, hat Bürgerbegehren und Bürgerentscheide untersucht und gibt eine Einschätzung.

Kritiker des Esslinger Bürgerbegehrens haben moniert, dass sich zwei Stadträte an die Spitze des Bürgerbegehrens gestellt hatten. Das wurde von politischen Gegnern „undemokratisch“ genannt. Teilen Sie diese Einschätzung?
Das sehe ich überhaupt nicht so. Tatsächlich gibt es zahlreiche Bürgerbegehren, die von politischen Parteien oder einzelnen Mandatsträgern als Initiatoren getragen wurden. Allein in Stuttgart hatten wir seit 1956 insgesamt 16 Bürgerbegehren – sieben Mal sind Parteien oder einzelne Stadträte als Initiatoren aufgetreten. Und es gab weitere Fälle, in denen frühere Mandatsträger wie der ehemalige Bundestagsabgeordnete Peter Conradi an der Spitze standen. Das geht im Übrigen quer durch alle Parteien. In Stuttgart waren es FDP, Freie Wähler, Grüne, Linke und SPD, in anderen Städten auch die CDU, die Bürgerbegehren betrieben beziehungsweise unterstützt haben. Dass Parteien beziehungsweise einzelne Mandatsträger Einrichtungen unmittelbarer Demokratie nutzen, steht auch fest auf dem Boden des Grundgesetzes. Artikel 21 Absatz 1 sagt: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Und in Artikel 20 Absatz 2 heißt es, dass die Staatsgewalt vom Volke ausgeht und in Wahlen, aber auch in Abstimmungen ausgeübt wird. Insofern sehe ich überhaupt nicht, weshalb es ein Problem sein sollte, wenn jemand, der politisch aktiv ist, solch ein Bürgerbegehren betreibt.

Die Anforderungen an ein Bürgerbegehren sind sehr hoch. So haben die Initiatoren gerade mal drei Monate Zeit, um die erforderlichen Unterschriften zu sammeln. Machen es solche Regelungen nicht schwer, direkte Demokratie zu wagen?
Sie haben Recht, wobei man nicht vergessen darf, dass die Anforderungen bereits abgesenkt wurden. Bis zur Reform der baden-württembergischen Gemeindeordnung im Jahr 2015 betrug die Frist nur sechs Wochen. Inzwischen würde ich sagen, dass die Regelungen in Baden-Württemberg im Bundesvergleich zwar nicht besonders bürgerbegehrensfreundlich sind, sie sind aber auch nicht besonders bürgerbegehrensunfreundlich. Ich würde sie als durchschnittlich bezeichnen. Der Esslinger Oberbürgermeister hat in einem Brief an die Initiative erklärt, Bürgerbegehren und Bürgerentscheide ließen „in den allermeisten Fällen eine geteilte Stadt zurück“. Sehen Sie das auch so?
Überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil können Bürgerentscheide auf Gemeinde- und Volksentscheide auf Landesebene befriedende Wirkung haben, weil sie Akzeptanz für Entscheidungen schaffen. Die davon abweichende Einschätzung des Oberbürgermeisters sehe ich eher als politisch motiviert. Denn auch sonst habe ich den Eindruck, dass die Stadt Stimmung gegen das Bürgerbegehren macht. Das wird zum Beispiel dadurch deutlich, dass die Kosten für einen Bürgerentscheid, die 80 000 Euro betragen sollen, in den Vordergrund gerückt werden.

Wie sollte eine Stadt mit Bürgerbegehren umgehen, damit sie befriedend wirken?
Sie muss den Bürgerwillen ernst nehmen und darf ihn nicht unterlaufen, indem zum Beispiel Tatsachen geschaffen werden, bevor die Bürger entschieden haben. Das wäre in hohem Maße kontraproduktiv und würde bei vielen Bürgern zu einem Vertrauensverlust führen.

Sind Bürgerbegehren auch eine Möglichkeit, dem zu begegnen, was man gerne als Politikverdrossenheit bezeichnet?
Auf jeden Fall tragen Bürgerbegehren einem steigenden Partizipationsbedürfnis Rechnung. Sie sind sicherlich keine Allheilmittel, aber wichtige Ergänzungen zur repräsentativen Demokratie.

Ist eine Frage wie der Standort einer Stadtbücherei, wie sie in Esslingen thematisiert wird, überhaupt ein Thema, das sich für einen Bürgerentscheid eignet?
Grundsätzlich ist diese Frage in Baden-Württemberg einem Bürgerbegehren zugänglich. Standorte öffentlicher Einrichtungen sind in der Tat häufig Gegenstand von Bürgerbegehren. Allerdings habe ich hinsichtlich der rechtlichen Zulässigkeit des Bürgerbegehrens in Esslingen Zweifel.

Woran machen Sie Ihre Bedenken fest?
Ein Bürgerbegehren muss mit einem Kostendeckungsvorschlag versehen sein. Das ist im Esslinger Fall auch geschehen. Da heißt es auf der Unterschriftenliste der Initiative: „Nach Auskunft der Stadtverwaltung entstünden bei Umsetzung des Anliegens des Bürgerbegehrens innerhalb eines Zeitraums von 38 Jahren Mehrkosten von insgesamt 7,6 Millionen Euro. Zur Finanzierung schlagen wir liquide Mittel sowie, falls notwendig, Kreditaufnahmen vor.“ In der einschlägigen Fachliteratur findet man jedoch den Hinweis, dass der pauschale Verweis auf liquide Haushaltsmittel als Kostendeckungsvorschlag nicht ausreiche, weil sich die Initiatoren des Bürgerbegehrens damit auseinandersetzen müssten, welche anderen kommunalen Maßnahmen im Gegenzug als weniger wichtig angesehen würden. Das allein führt dazu, dass der Gemeinderat die Unzulässigkeit des Bürgerbegehrens feststellen muss. Hinsichtlich des Verweises auf eine Kreditfinanzierung ist demgegenüber zu unterscheiden: Hinsichtlich investiver Kosten dürften Kredite in Anspruch genommen werden, während Kredite für Mehrkosten im Betrieb von der Gemeindeordnung nicht vorgesehen sind. Soweit die Mehrkosten also nicht nur investiver Natur sind, führt auch das zur Unzulässigkeit. Drittens könnte man mit Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz etwas spitzfindig anmerken, dass vielleicht nicht allen Bürgern klar ist, was mit Erweiterung und Modernisierung der Stadtbücherei gemeint ist und dass man das genauer hätte ausführen müssen. Aber darüber lässt sich streiten.

Interview: Alexander Maier

Zur Person

Professor Christopher Schmidt lehrt an der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Esslingen. Dort hat er zusammen mit Studierenden eine Studie über „Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Stuttgart 1956 bis 2018“ erarbeitet. Schmidt ist promovierter Jurist. Er hat bereits 2006 in Hannover zum Thema „Bürgerbegehren und Bürgerentscheid“ promoviert und seitdem eine Vielzahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen zum Thema verfasst. Und er ist stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Instituts für sachunmittelbare Demokratie an der TU Dresden.