Quelle: Unbekannt

Von Dietrich Heißenbüttel

Vor 500 Jahren schlug Martin Luther seine Thesen an die Wittenberger Schlosskirche an. Ein Grund zu feiern, doch was sagt uns die Reformation heute - und wie feiert man sie? Auf jeden Fall mit Gesang, denn das protestantische Kirchenlied war das wichtigste Medium der Reformation, da die Gemeinde, anders als in der katholischen Kirche, in den Gesang selbst mit einstimmte und sich so mit der Sache identifizieren konnte. Daran erinnerte Harald Haury im jüngsten Konzert des Esslinger Vocalensembles, das in der Stadtkirche St. Dionys viel Beifall fand. Das Vocalensemble und sein Leiter Jens Paulus hatten für diesen Abend ein ungewöhnlich ambitioniertes Repertoire zusammengestellt, das mit bemerkenswerter Finesse gemeistert wurde.

Festlicher Auftakt

Festlich hatten Chor und Orchester - die Sinfonia 02 - mit dem evangelischen Kirchenlied schlechthin, „Ein feste Burg ist unser Gott“ in der Version von Otto Nicolai, in das Programm eingeleitet: Gravitätisch beginnt der Chor, dann kommt mit einer Fuge des Orchesters Bewegung ins Spiel, das Wehrhafte im Text immer wieder unterstrichen durch vorwärts treibende Paukenschläge. „Ein neues Lied wir heben an“ - so hieß Luthers erstes Kirchenlied, ganz ähnlich wie das nun folgende „Singet dem Herrn ein neues Lied“. Zu hören war nicht die Kantate von Bach, sondern die Motette, die Heinrich Schütz für die Hundertjahrfeier der Reformation in Wittenberg schrieb. Wie nebenbei leiten schnelle Koloraturen in eine eng geführte Fuge ein, während der Chor bei der Textzeile „Er sieget mit seiner Rechten“ plötzlich zu einem homophonen Satz wechselt.

Es folgte ein Zeitsprung ins Jahr 1938, als Ernst Pepping seine „Deutsche Messe“ schrieb. Ein Jahrhundert zuvor mischte Felix Mendelssohn-Bartholdys Choralkantate „Wir glauben all an einen Gott“ auf der Basis des Lutherschen Kirchenliedes auf farbigste Weise die Klänge von Chor und Orchester. Der Komponist hat sich nicht nur in seiner Reformationssymphonie, von der anschließend der vierte Satz zu hören war, immer wieder zur Reformation bekannt. Gleichwohl lässt der Titel „Wir glauben alle …“ auch die Deutung zu, dass die Unterschiede zwischen den Religionen, zwischen Judentum und Christentum, nicht überbetont werden sollten.

Das Finale der Reformationssymphonie beginnt mit sanften Flötentönen, um später doch triumphal zu enden. Während die Streicher in munterem Spiel eine Fuge intonieren, lässt der Komponist, der wesentlich zur Wiederentdeckung von Johann Sebastian Bach beigetragen hat, die Blechbläser getragen das Titelmotiv, einmal mehr „Ein feste Burg …“, anstimmen. Haury stellte klar, dass mit dem Reformationsgedanken auch Missbrauch getrieben wurde: Überwog im frühen 19. Jahrhundert ein Lutherbild, das die Errungenschaften der Aufklärung auf die Epoche der Reformation zurückprojizierte, so setzte sich später immer mehr eine nationalistische Inanspruchnahme des „Deutschen Luther“ durch. Mit dem auf die Reformationssymphonie folgenden „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“ von Stefan Vanselow sprang das Programm dann aber abrupt in die Gegenwart. Hier war Chorleiter Jens Paulus ganz in seinem Element. Wiederum ausgehend von einem Lied Martin Luthers, bleibt die Komposition harmonisch unkompliziert, bei einer vertrackten, unregelmäßigen Rhythmik, die Paulus mit seinem Chor in zügigem Tempo beschwingt meisterte. Ausgangspunkt ist das auf dem Grundton ständig wiederholte, in einem Fünferrhythmus vorgetragene „Freut euch liebe Christen“, periodisch erweitert zu „liebe, liebe Christen.“

Anknüpfend an den Titel der folgenden Choralkantate Mendelssohns - „Ach Gott, vom Himmel sieh darein“ - mit dem vorzüglichen Solisten Emanuel Fluck (Bass) erinnerte Harald Haury an die „unheilvolle Verquickung von Staat und Glaube, Politik und Religion“, gegen die auch Luther und die Reformation nicht gefeit seien. Er fragte nach dem Verhältnis von Religion und Welt heute und auf welche Weise an die Reformation erinnert werden solle. Als „Impulse, die helfen können“, nannte er das Johannes-Wort vom Fleisch gewordenen Wort, das sich nicht nur auf Christen, sondern auf alle Menschen beziehe, und an den in der Reformation enthaltenen Grundsatz der Freiheit. Bei Johann Sebastian Bachs „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ durften die Zuhörer mitsingen. Das Konzert des Esslinger Vocalensembles, das in vielen Zuhörern noch lange nachklang, endete wieder mit Heinrich Schütz und der Bitte „Verleih uns Frieden gnädiglich“.