Der frühere Vorstandsvorsitzende von Festo, der Göppinger Eberhard Veit, berät Bundeskanzlerin Angela Merkel in Fragen der Industrie 4.0. Foto: oh Quelle: Unbekannt

Göppingen - Industrie 4.0 gilt als Synonym für die Digitalisierung der Arbeitwelt. Maschinenbau und Elektrotechnik wachsen mit der Informationstechnologie zu intelligent vernetzten Produktionsweisen in den Fabriken der Zukunft zusammen. Die Fertigung steuert und optimiert sich selbst, Material, Maschinen und logistische Systeme kommunizieren direkt miteinander und bereiten Entscheidungen für den Menschen vor - oder treffen sie selbst. Das Internet verbindet die Akteure miteinander. Nicht nur in die Industrie, in vielen Branchen schreitet die vierte industrielle Revolution voran. Eberhard Veit war bis Ende 2015 Vorstandsvorsitzender der Esslinger Festo AG und hat sich selbstständig gemacht hat. Ein Gespräch mit dem 55 Jahre alten Industrie 4.0-Experten.

Im Silicon Valley ist es ausgemachte Sache, dass alles, was digitalisiert werden kann, digitalisiert wird. Sollten wir deshalb statt Industrie 4.0 nicht besser über Wirtschaft 4.0 sprechen?

Veit: Industrie 4.0 ist tatsächlich nur ein kleiner Ausschnitt der Wirtschaft 4.0. Auch die Politik hat nun erkannt, dass die Digitalisierung viel weiter geht. Deshalb muss man von Wirtschaft 4.0 reden, ich sage sogar von Leben 4.0. Alltag und Leben vermischen sich mehr und mehr mit dem Arbeiten.

Kommen wir zu Ihrem Spezialgebiet, der Industrie 4.0, also der Vernetzung der globalen Maschinenwelt. Sie beraten als einer der Leiter der Plattform Industrie 4.0 die Bundeskanzlerin. Bei den G20-Treffen in Berlin und Baden-Baden haben alle Staaten gemeinsamen Normen und Standards für Sicherheit und Ausbildung zugestimmt. Welchen Anteil hatten Sie daran?

Veit: Es gibt ein starkes Leitungsteam, welches die Digitalisierung und die Industrie 4.0 begleitet, leitet und fördert. In Deutschland arbeiten hierfür Wirtschaftsverbände und Politik auf Augenhöhe zusammen. Ich war bei der Internationalisierung der deutschen Industrie 4.0 und deren Normen für Sicherheit, technische Standards und Schnittstellen sowie Cloud-Lösungen maßgeblich involviert - und bin es heute noch. Das Internet hört ja nicht an Landesgrenzen auf. Die G20-Treffen waren dabei für uns der entscheidende Punkt, alle Länder waren und sind sich einig.

In welchen Ländern haben Sie zuvor die Werbetrommel gerührt?

Veit: In den USA, England, Ungarn, Spanien, Portugal, der Schweiz und in skandinavischen Ländern. Die Internationalität funktioniert aber nur dann, wenn wir Deutsche von unseren Standards etwas zurückgehen.

Unsere Standards sind zu hoch?

Veit: Wir müssen offene Standards haben, damit sich jeder landesspezifisch andocken kann.

Wie weit sind denn andere Länder beim Thema Industrie 4.0?

Veit: Die Amerikaner kommen von der Software und haben dort gegenüber uns einen großen Vorsprung. Wir müssen über die Software Geschäftsmodelle zunächst entwickeln und dann realisieren. Bei der Hardware aber, also Maschinen und Anlagen, sind wir deutlich weiter; ja sogar einzigartig. Und ein Wort zur Schweiz: Das Land ist sehr schnell unterwegs und weit, was die Digitalisierung betrifft. In der Geschwindigkeit ein Vorbild auch für Deutschland.

Wie steht die Region Stuttgart da?

Veit: Die Region Stuttgart ist ziemlich gut aufgestellt, auch und weil die Politik, Hochschulen und Organisationen die digitale Entwicklung unterstützen.

Aber hat sich Deutschland und die Region gerade was Software betrifft nicht abhängen lassen? Das letzte große deutsche Softwareunternehmen von Weltrang war doch SAP.

Veit: Man sagt, die Software ist der Gewinner der Digitalisierung und die Hardware das Beiwerk. Die Investitionen in die Digitalisierung bei Mittelständlern und großen Unternehmen steigen jedoch deutlich. Aber Sie haben recht: Die Digitalisierung wird sich entscheiden, ob wir Software und entsprechende Geschäftsmodelle können.

Wie lange beraten Sie die Bundeskanzlerin und die Regierung in Sachen Industrie 4.0 noch?

Veit: Ich wollte diese Beratertätigkeit zum Jahresende auslaufen lassen, wurde aber gefragt, ob ich es nicht noch etwas länger mache. Das tue ich.

Die Kanzlerin selbst will Teil dieses Prozesses sein und ihn nicht leiten. Ist das so?

Veit: Frau Merkel ist jemand, der sehr gut zuhören kann und das, was sie verstanden hat, reflektiert und zusammenfasst. Als Naturwissenschaftlerin stellt sie die richtigen Fragen, auf die man selbst manchmal nicht kommt. Die Politik muss diesen Prozess nicht leiten, sondern begleiten. Ganz wichtig: Wir brauchen insbesondere einen Umbruch der Bildungslandschaft. Da muss uns die Politik unterstützen.

Neben Ihrer Tätigkeit für die Bundesregierung beraten Sie zwölf Familienunternehmen und sitzen in acht Aufsichtsräten. Sie haben bestimmt lange Arbeitstage. Hatten Sie sich das so vorgestellt, als Sie bei Festo als Vorstandsvorsitzender aufgehört hatten, um sich selbstständig zu machen?

Veit: Vom Zeitaufwand ist das vergleichbar. Aber ich bin selbstbestimmt. Und es macht mir unheimlich Spaß. Übrigens hat mir dir Arbeit bei Festo ebenfalls sehr viel Freude gemacht. Die Digitalisierung findet nicht nur in Unternehmen statt, sondern auch bei Aufsichtsräten und Gesellschaftern. Firmeninhaber wollen auch in die digitale Welt begleitet werden. Es gibt neue Spielregeln der Wirtschaftlichkeitsrechnung und der Führung eines Unternehmens.

Mittlerweile gibt es die zweite Generation der „Digital Natives“, die Generation Z. Für sie ist ein Arbeitsplatz in einer Firma, die nicht in die digitale Welt strebt, unattraktiv. Heißt im Umkehrschluss: Wer qualifizierten Nachwuchs möchte, muss in die digitale Welt. Warum zaudern dennoch etliche Mittelständler?

Veit: Richtig ist, dass sich die Erwartungen der neuen, jungen Generation fundamental verändert haben. Wenn sie zuhause in der digitalen Welt leben, erwarten sie das auch von ihrem Arbeitsplatz. Aber wenn die Wirtschaft brummt wie seit Jahren und das eigene Unternehmen gut läuft, ist das Beharrungsvermögen in den Firmen groß. Da sieht man leicht die Vergangenheit als Zukunft. Eine meiner Aufgaben ist es, hier neue Denkweisen einzuführen und zu begleiten.

Beim Thema Datensicherheit gibt es den Fort Knox-Ansatz, was heißt, dass sich Unternehmen abschotten und mit großen Aufwand ihre Daten zu schützen versuchen. Ein anderer Ansatz verfährt nach dem Motto, alles zu teilen, damit es besser und schneller vorangehen kann. Was ist Ihr Ansatz?

Veit: Ich habe ein Modell einer „Cyber-Plattform 4.0“ entwickelt. Daten werden in einen abgeschlossen Datenraum gegeben, der dem Unternehmen gehört. Eine offene Standardschnittstelle stellt Verbindungen zu anderen Firmen her. Sie haben immer den Schlüssel für den Raum in der Hand, haben Sicherheit und Offenheit. In der Industrie 4.0 muss man vernetzt arbeiten und Anknüpfungspunkte bieten.

Klingt nach einem Mittelweg.

Veit: Ja. Das wird der Weg sein, der bei diesem Thema in den nächsten Jahren die Lösung ist.

Liegt die IG Metall richtig, wenn sie sagt, Digitalisierung könnte einen Beitrag zur Humanisierung der Arbeit leisten, tatsächlich aber hält sie vielfach als Rationalisierung von oben Einzug in die Betriebe?

Veit: Die IG Metall hat recht, auch wenn es mir ein bisschen schwerfällt, dies zu sagen. Digitalisierung hilft einerseits die physischen Arbeitsinhalte menschlicher und weniger belastend zu machen, andererseits meinen viele Unternehmen, Digitalisierung sei nur ein Einsparungstool. Letzteres ist sicher nicht der Fall. Bei Festo hatten wir mehreres im Blick: höhere Produktivität und Flexibilität sowie menschlichere Arbeitsplätze. Und im „War for Talents“ auch die jüngere Generation für das Unternehmen zu begeistern.

Was fällt Ihnen ein zum Stichwort kognitive Maschine?

Veit: Kommt und ist zwingend notwendig, um die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine einfach zu gestalten. Die Maschine muss ein selbstlernendes, intelligentes System sein, welches das Verhaltensmuster eines Menschen nachvollzieht und erfasst, was ihr Betreiber braucht - oder nicht braucht.

Künstliche Intelligenz?

Veit: Ist schon weit verbreitet. Beispielsweise beim PC, der von Ihrem Verhalten lernt und sich merkt, was Sie suchen und Ihnen dann dabei hilft. Künstliche Intelligenz wird auch in den Maschinen ankommen. Sie kann unseren Alltag schöner und angenehmer machen. Ob man es annimmt, ist eine andere Frage.

Biologisierung der Industrie?

Veit: Das wird das nächste Thema nach Industrie 4.0. Fahrzeuge beispielsweise könnten dann sogar zur Luftreinigung verwendet werden. Die Vision ist: Das Auto fährt nicht als „Verschmutzungsapparat“ durch die Stadt, sondern als „Luftreinigungsgerät“ durch intelligente Filtersysteme.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem grassierenden Rechtspopulismus und dem individuellen Lebensgefühl von Menschen, auf dem Weg in die digitale Welt nicht verstanden und mitgenommen zu werden?

Veit: Den gibt es. Die digitale Welt schafft Transparenz - und auch Neid. Und sie bietet eine Plattform, sich gegenseitig aufzuheizen. Gerade durch die Anonymität im Netz und Foren können Dinge überzeichnet werden.

Das Interview führte Michael Paproth.

zur person

Eberhard Veit wurde am 28. April 1962 in Göppingen geboren, studierte Maschinenbau an der Universität Stuttgart und wurde im Jahr 2000 mit dem Thema „Roboterstaubsauger für den Haushalt: Entwicklung eines Funktionsmodells mit Steuerungsalgorithmus“ an der Universität München promoviert. Veit arbeitete vor seiner Tätigkeit bei Festo in Esslingen bei Märklin und Kärcher.