Der Slogan der CDU von 1957 spiegelt für lange Zeiträume auch das Wählerverhalten. Foto: Adenauer-Stiftung Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Die großen Turbulenzen um die Flüchtlingspolitik sind abgeklungen, die Ehe für alle wurde flugs durchgewunken, die Kanzlerin sitzt auf hohem Umfragethron. Und ihr Herausforderer im Keller. CDU/CSU mit Kanzlerkandidatin Angela Merkel werden laut aktuellen Erhebungen der verschiedenen Institute zwischen 37 und 40 Prozent prognostiziert, der SPD mit Martin Schulz zwischen 22 und 25 Prozent. Doch beharrlich setzt Schulz auf seinen sogenannten Gerechtigkeitswahlkampf und hofft damit auf einen siegreichen Endspurt - beschleunigt vom Rückenwind einer denn doch noch einsetzenden Wechselstimmung. Die aber ist ein rarer Gast in der bundesdeutschen Demokratie. Seit der ersten Bundestagswahl 1949 wechselte nur vier Mal die Macht zwischen Union und SPD als den koalitionsführenden, den Kanzler oder die Kanzlerin stellenden Parteien.

Neben der „Sonntagsfrage“ gibt es noch andere Erhebungen, die ein seit einigen Jahren konstantes Bild zeigen - jüngst bestätigt durch eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Den Befunden zufolge fühlt sich die klare Mehrheit der Wahlberechtigten gerecht behandelt. Eine noch größere Mehrheit - je nach Untersuchung bis zu 70 oder sogar noch mehr Prozent - ist jedoch überzeugt, dass in Deutschland insgesamt die soziale Ungerechtigkeit zunehme. Ob Schulz diesen Widerspruch zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung nutzen kann, dürfte einen Einfluss auf das Wahlergebnis am 24. September haben. Ob es für einen Wechsel reicht, ist eine andere Frage. Ein Rückblick auf die „Wechselwahlen“ zeigt, dass ihnen meist eine längere Erosion des Machterhalts, eine sich über Jahre anbahnende Veränderung des politischen Klimas vorausging.

1949: Rückkehr zur Demokratie

Die erste Bundestagswahl 1949 war natürlich keine Wechselwahl, wohl aber eine Richtungsentscheidung nach der Rückkehr zur Demokratie. Im Wahlkampf fochten SPD-Kanzlerkandidaten Kurt Schumacher und sein CDU-Kontrahent Konrad Adenauer denn auch mit harten Bandagen. Letztlich ging es in der hoch ideologisierten Wahl- und äußerst polemischen Schlammschlacht - Schumacher titulierte Adenauer als „Lügenauer“, der konterte mit „Rattenfänger“ - um Plan- oder Marktwirtschaft, Westbindung oder Neutralität. Während Schumacher mit sozialistischen und anti-klerikalen Parolen im Stil der Weimarer Zeit polarisierte, war der bereits 73-jährige Adenauer in gewisser Weise eher auf der Höhe der Gegenwart: Nach Weimarer Chaos, Diktatur und Krieg befriedigte er die Sehnsucht nach Ruhe und bürgerlichem Ausgleich. Dennoch war das Wahlergebnis - 31 Prozent für die Union, 29,2 Prozent für die SPD - knapp. Aber folgenreich: Adenauer konnte mit der von ihm geführten konservativ-liberalen Koalition die politische, wirtschaftliche und militärische West-Integration auf den Weg bringen. Die Geschichte der Bundesrepublik wäre wohl grundlegend anders verlaufen, hätte 1949 Schumachers SPD gewonnen. So aber beflügelte das Wirtschaftswunder die Adenauer-Union zu Höhenflügen. Die Wahl 1953 wurde triumphal gewonnen, der Stern des Kanzlers stieg noch höher: bis zur absoluten Mehrheit, welche die Union als erste und bislang einzige Fraktion bei der Bundestagswahl 1957 errang. Soziale Markwirtschaft war das Stichwort der Zeit, verkörpert von dem - damals übrigens parteilosen, von Adenauer menschlich wenig geschätzten - Wirtschaftsminister Ludwig Erhard mit seinem Versprechen des „Wohlstands für alle“ (so der Titel seines 1957 erschienenen Buchs).

1969: Die erste Wechselwahl

Die von Adenauer gelegten Fundamente zementierten die Macht der Union ganze 20 Jahre lang - bis 1969 die sozialliberale Koalition ans Ruder kam. Doch schon fast zehn Jahre vorher hatten sich erste Symptome eines politischen Klimawechsels gezeigt. In Teilen der Union, vor allem aber beim Koalitionspartner FDP mehrte sich Kritik am greisen Adenauer, nunmehr „der Alte“ genannt. Der Erfolgsslogan von 1957 - „Keine Experimente“ - verwandelte sich ins Gegenteil. Vielen galt Adenauers Kurs nunmehr als unbeweglich, seine Weigerung, einen Nachfolger aufzubauen, als Altersstarrsinn. Umgekehrt hat sich die SPD mit ihrem Godesberger Programm von 1959 pragmatisch modernisiert, ein Bekenntnis zur Marktwirtschaft, NATO und Westbindung abgelegt.

1963 trat Adenauer zurück, Ludwig Erhard als neuer Kanzler agierte glücklos. 1966 gab er das Amt auf - nach wirtschaftlicher Rezession und einem Streit um Steuererhöhungen, der mit dem Rückzug der FDP aus der Koalition endete. Der baden-württembergische Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger wurde mit den Stimmen der erstarkten SPD zum Kanzler gewählt - als Chef der ersten Großen Koalition in der Bundesrepublik. Die Diadochenkämpfe nach Adenauer sind indes nur Symptome einer sich verändernden politischen Großwetterlage, nicht die Ursache des Machtwechsels 1969. Dieser ist eher im gesellschaftlichen Klima der 60er-Jahre zu suchen, das trotz der Straßenschlachten protestierender Studenten auch in der bürgerlichen Wählerschaft den Wunsch nach politischer Öffnung, nach einem Aufbrechen verkrusteter Strukturen weckte. Die FDP reagierte auf die Wechselstimmung und koalierte erstmals mit den Sozialdemokraten unter Kanzler Willy Brandt.

Eine neue Ostpolitik statt starrem Beharren auf alten Positionen, eine fortschrittlichere Gesellschaftspolitik, der Geist von Aufbruch statt Mief: Vom Wähler wurde das trotz heftiger Kontroversen goutiert. Bei der vorgezogenen Wahl 1972 - nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen Brandt - wurde die SPD erstmals stärkste Partei im Bundestag und erzielte mit 45,8 Prozent ihr bis heute bestes Ergebnis bei nationalen Wahlen. Auch die FDP konnte kräftig zulegen.

1983: Ära Helmut Kohl beginnt

Ähnlich wie bei der Union in den 50er-Jahren folgt die sozialliberale Ära der Sinuskurve von Aufstieg und Niedergang - allerdings mit einer atypischen Verschiebung am Ende. Ölkrise 1973, RAF-Terror, der Rücktritt Brandts 1974 wegen der Guillaume-Spionageaffäre, Enttäuschungen in puncto Ostpolitik: Ganz unterschiedliche Faktoren ließen das Wählerzünglein an der Waage wieder gen Union tendieren. 1976 verlor die SPD mit Kanzlerkandidat Helmut Schmidt ihren Spitzenplatz, rettete jedoch die Koalitionsmehrheit. Sie wäre möglicherweise 1980 gekippt, hätte die Union nicht den höchst polarisierenden Franz Josef Strauß zum Kanzlerkandidaten gekürt. Er scheiterte, die sozialliberale Koalition ging in die Verlängerung, bis die FDP im Streit um die Wirtschaftspolitik die Reißleine zog und den Koalitionspartner wechselte. Mit den vorgezogenen Neuwahlen 1983 begann die lange schwarz-gelbe Ära unter Helmut Kohl.

1998: Rot-Grün gewinnt

Für die SPD begann die schwierige Phase einer Zersplitterung ihres Wählerpotenzials: durch die Grünen, die 1983 erstmals in den Bundestag einzogen, nach der Wiedervereinigung zusätzlich durch PDS beziehungsweise Linkspartei. Erst 1998 verspürten die Wähler wieder das Bedürfnis nach einem Personalwechsel an der Spitze. Abnutzungserscheinungen der Kohl-Regierung hatten sich zwar längst gezeigt, sie wurden aber überlagert durch den Schub der Wiedervereinigung für den „Einheitskanzler“. Als sich aber der „Aufbau Ost“ als Bumerang für Kohl erwies, weil er nur langsam und mit unguten Kollateraleffekten vorankam, als die Arbeitslosenzahlen stiegen und allenthalben ein „Reformstau“ beklagt wurde, schlug wieder die Stunde der Sozialdemokraten, nunmehr neu sortiert in Richtung rot-grüne Koalition.

Die SPD mit Kanzlerkandidat Gerhard Schröder überholte mit 40,9 Prozent erstmals seit 1972 wieder die Union, nur folgten dem fulminanten Ergebnis keine allzu großen rot-grünen Taten, sondern steigende Arbeitslosenzahlen. Bereits 2002 sah es wieder nach Wechsel aus. Dank medienwirksamem Einsatz als gummigestiefelter Hochwasser-Kanzler, dank undiplomatisch klarem Nein zum Irak-Krieg und dank Stimmengewinnen der Grünen konnte Schröder die Koalition noch einmal knapp über die Mehrheitshürde bringen.

2005: Angie - forever?

Dass Schröder dann mit den umstrittenen Hartz-Reformen die Arbeitslosigkeit bekämpfte, entfremdete der SPD Teile ihres Stammwähler-Milieus. Nach einer spektakulären Niederlage in Nordrhein-Westfalen setzte Schröder 2005 die vorgezogene Neuwahl im Bund durch. Sie hatte außer PDS/Linkspartei nur Verlierer. Es reichte weder für Rot-Grün noch für Schwarz-Gelb. Knapp vor der SPD landete mit bescheidenen 35,2 Prozent die Union mit Angela Merkel. Nach langen Sondierungen wurde sie Kanzlerin einer Großen Koalition.

Und seither heißt es Angie - forever? Man kann in der Geschichte der Bundestagswahlen ein gewisses Trägheitsprinzip erkennen, eine dauerhafte Spiegelung des alten „Keine Experimente“-Slogans im Wählerverhalten. Offenkundig können Parteien und Kandidaten diese Tendenz zum Weiter-so kaum durch eigene Mobilisierungseffekte umbiegen, sondern nur im Windschatten eines veränderten, schwer zu beeinflussenden und teils politikfernen Zeitgeists.

Dazu kommt in jüngerer Zeit eine Verwechselbarkeit der großen Parteien auch in jenen speziellen Kompetenzbereichen, welche ihnen die Wähler traditionell zugute halten. Mit der Agenda 2010 machten die Sozialdemokraten CDU-Wirtschafts- und Sozialpolitik. Mit Energiewende, Flüchtlingspolitik, Abschaffung der Wehrpflicht und Ehe für alle besetzte die Union Politikfelder der Konkurrenz.

Natürlich bestreitet jeder Wahlkämpfer diese politische Indifferenz. Aber als verbreitete Gestimmtheit samt populistischer Anfälligkeiten ist sie Fakt und Faktor. Der Wind des Wechsels verflüchtigt sich vollends, wenn man nicht mehr zu wissen glaubt, was man überhaupt ein- oder auswechselt.