Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa - Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Die EU ist unser Geschäftsmodell, sagt Ministerpräsident Kretschmann - und will Wähler mit blanken Zahlen mobilisieren.

Stuttgart (dpa/lsw)Was haben Wanderwege entlang des Hochrheins mit Hirnforschung in Heidelberg und Futter für Bodensee-Bienen gemein? Diese und Tausende andere Projekte im Land werden finanziell von der EU unterstützt. Aber wie viele Menschen wissen davon? Wenige Tage vor der Europawahl am 26. Mai trommelt die grün-schwarze Landesregierung für die EU und ruft zum Mitmachen auf. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und Europaminister Guido Wolf (CDU) versuchen am Dienstag die Vorteile Europas mit nackten Zahlen darzulegen. Rund 5,1 Milliarden Euro EU-Fördermittel fließen demnach in der laufenden Förderperiode bis 2020 ins Land.

«Baden-Württemberg profitiert von Europa», sagt Kretschmann. Auch für wirtschaftliche starke Regionen sei die Förderung aus Brüssel wichtig. «Wirtschaftlich gesehen ist die EU unser Geschäftsmodell», sagt Kretschmann auch in Richtung der Europakritiker von der AfD. Er argumentiert vor allem mit der Bedeutung des Binnenmarkts und offener Grenzen für das Exportland Baden-Württemberg.

Mehr als die Hälfte der Exporte aus dem Südwesten gehen in die EU. Jeder dritte Arbeitsplatz hänge vom Exportgeschäft ab. Deutschland verbuche allein durch den EU-Binnenmarkt einen Wohlstandsgewinn von 86 Milliarden Euro pro Jahr, sagte Kretschmann. «Das sind durchschnittlich 1000 Euro Gewinn an Wohlstand zusätzlich für jeden Bürger, in Baden-Württemberg sind es sogar 1200 Euro – der höchste Wert aller Flächenländer.»

Und trotzdem hält sich das Interesse an der Europawahl etwa im Vergleich zur Bundestagswahl in Grenzen. 8,5 Millionen Menschen sind in Baden-Württemberg nach Angaben des Bundeswahlleiters wahlberechtigt - aber gerade einmal jeder zweite beteiligt sich. 2014 lag die Beteiligung nach Angaben des Statistischen Landesamtes bei 52,1 Prozent. Zum Vergleich: Bei der vergangenen Bundestagswahl (2017) betrug sie im Südwesten 78,3 Prozent. Europaweit lag die Beteiligung 2014 bei 43 Prozent - bei der ersten Wahl des Europäischen Parlaments 1979 hingegen noch bei 62 Prozent.

Ein Teil der Bevölkerung habe die Wichtigkeit Europas noch nicht erkannt, sagt Kretschmann. Und das, obwohl das EU-Parlament - die einzige direkt gewählte Institution der EU - immer mehr Mitwirkungsrechte gewinnt. Und obwohl Wahlkämpfer alle paar Jahre das Bild eines Europas am Abgrund beschwören. EU-kritische, populistische und nationalistische Kräfte sind auf dem Vormarsch in einigen Ländern. Europa als Kontinent im permanenten Krisenmodus?

Es gehe dieses Mal mehr denn je darum, ein Zeichen für Europa zu setzen und Gruppen zu stärken, die sich konstruktiv mit den Herausforderungen des Kontinents auseinandersetzten, sagt auch Wolf am Dienstag. Es sei an der Zeit, Chancen und Möglichkeiten Europas vor Augen zu führen. «Diskussionen über europäische Bürokratie und europäisches Klein-Klein haben wir hinreichend geführt.»

Mit einem Online-Portal macht die Landesregierung auf 180 Leuchtturmprojekte aufmerksam, etwa die Schaffung einer Europäischen Universität am Oberrhein oder den Ausbau des Rheinübergangs zwischen dem elsässischen Gambsheim und dem badischen Rheinau. Dies sei aber nur ein kleiner Ausschnitt. «Eine Komplettübersicht können wir gar nicht haben», sagt Wolf.

Die EU wirke jedenfalls auf vielen Ebenen. In 2015/2016 konnten 7064 Studenten aus Baden-Württemberg mit Hilfe des Erasmus-Bildungsförderung ins EU-Ausland gehen. Das Land profitiert nach Angaben des Justizministeriums zudem stark vom EU-Forschungsprogramm Horizont 2020. Rund 940 Millionen Euro sind zwischen 2014 und 2018 an Empfänger im Land geflossen. Die EU schütze aber auch regionale Spezialitäten: im Südwesten etwa die Schwäbischen Maultaschen oder die Schwarzwaldforelle.

Steffen Schulz, Sprecher der Münchner Vertretung der Europäischen Kommission, hat einen Überblick über die Geldtöpfe der EU. Aus dem Regionalfonds fließen in der aktuellen Förderperiode 247 Millionen Euro ans Land, aus dem Sozialfonds 260 Millionen und aus dem Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums 710 Millionen Euro. Landwirte erhalten im Schnitt 281 Euro pro Hektar Direktzahlungen aus einem weiteren Topf. Das Ansehen der EU ist in Deutschland längerfristig gestiegen und liegt höher als in der Gesamt-EU, sagt Schulz. Die Einschätzung, dass die Menschen sich nicht für die EU interessieren, könne man nicht teilen.

Es gehe auch nicht nur um Zahlen, Geldflüsse und Leistungen, erklärt Europaminister Wolf am Dienstag. «Wir wollen Europa nicht auf eine buchhalterische Bilanz reduzieren.» Der Mehrwert der EU sei gar nicht nicht bezifferbar. «Für uns ist Europa Staatsräson, weil wir mitten im Herzen leben und wie kein anderes Land von EU profitieren.» Der wichtigste Wert sei die Friedensdividende, schließlich habe es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs keinen Krieg mehr innerhalb der EU gegeben. Das sei ein unbezahlbares Gut. «Leider ist offenbar für viele Menschen dieses Gut nur allzu selbstverständlich geworden.»