Von Lena Müssigmann

Reutlingen - Reutlingen experimentiert mit Smart Urban Services - klingt kompliziert, aber nur bis man das Handy zückt und ausprobiert wie’s geht. Man öffnet die App „smaRT City“ und kann dann Sehenswürdigkeiten, Läden und Gastronomie in der Reutlinger Innenstadt suchen. Wegen des heißen Wetters schickt ein Café das Angebot des Erdbeerbechers aufs Display der Nutzer in der Innenstadt. Wer das Handy quer kippt, wird vom Programm direkt zu seinem Ziel geführt, beispielsweise ins Café oder ins Museum. Und nach dem Bummel leitet einen das Handy sogar zurück zum Auto.

Die App für Verbraucher ist ein Teil eines bundesweiten Forschungsprojektes, bei dem die Städte Reutlingen und Chemnitz die modernste Technik ausprobieren dürfen. Mit drei Millionen Euro fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung das Projekt. „Daten sind das Gold des 21. Jahrhunderts“, sagt der Reutlinger Wirtschaftsförderer und Ideengeber Markus Flammer.

Er hat das Projekt mit angestoßen, das nun vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation und vom Institut für Arbeitswissenschaften und Technologiemanagement der Universität Stuttgart geführt wird. Für Reutlingen sei es ein Glücksfall, Forschungsobjekt zu sein, sagt Flammer.

Das Ziel: Mit Hilfe gesammelter Daten soll der Handel als Publikumsmagnet in der Innenstadt gestärkt, das Stadtbild verbessert und die Verkehrsbelastung gesenkt werden. Der Projektleiter von der Universität Stuttgart, Martin Feldwieser, hält es für realistisch, diese Ziele zu erreichen. Und das nicht nur in Stuttgart. Das Konzept Smart City lasse sich auch auf andere Standorte anwenden.

Im Projekt zur Smart City läuft viel mehr, als der Verbraucher sieht. Zur Verbesserung des Stadtbildes wurden an den Mülleimern in der Stadt Sensoren eingebaut, erklärt Feldwieser. Sie zeigen den Stadtreinigern künftig schon am Rechner im Büro an, wo sie dringend hinfahren und die Eimer leeren sollten.

Durch die Verkehrs- und Parkplatzsensoren sollen die in Reutlingen häufig überschrittenen Grenzwerte für Luftschadstoffe künftig eher eingehalten werden. „Parksuchverkehr macht 30 bis 40 Prozent des Verkehrs in der Stadt aus“, sagt Flammer. Wer die App nutzt, sieht dort in Zukunft freie Parkplätze am Straßenrand und kann sie gezielt ansteuern. Eine weitere Idee: Die Ampelsteuerung könnte auf den in Echtzeit gemessenen Verkehr in der Stadt angepasst werden. Über 40 Sensorknoten mit unterschiedlichen Messgeräten wurden eingerichtet.

Projekt läuft bis Ende 2018

Die Daten könnten der Stadtverwaltung beispielsweise eine Antwort auf die Frage liefern, wo sich die Menschen am liebsten aufhalten und wo folglich Sitzbänke oder Spielgeräte aufgebaut werden sollten, damit sie sich noch wohler fühlen. Flammer hat viele Ideen für das Projekt, das noch bis Ende 2018 läuft. Die App, die viele Informationen aus der Smart City bündelt, läuft bereits. Im ersten Monat wurde sie gut 2000 Mal heruntergeladen. Der Deutsche Städtetag sieht die Chance der Smart City allgemein darin, dass die dadurch gesammelten Daten als Grundlage für Entscheidungen der Kommunen dienen können.

Weil der Fokus des Projektes in Reutlingen auch auf öffentlicher Belebung und Verkehr liegt, ist der Handel so eng einbezogen. „Wir waren bisher relativ konservativ unterwegs“, gibt der Vorsitzende des Reutlinger Gewerbevereins, Christian Wittel, zu. Der Optiker und viele Kollegen sehen die App als Chance und können jetzt durch sogenannte Beacons - Bluetooth-Signalgeber, die im Laden an die Wand geklebt werden können - Angebote auf Handys in der Nähe schicken. Wer vor einem Regal steht, kann durch die Beacons zum Beispiel ein Erklärvideo zu einem Produkt auf dem Handy angeboten bekommen.

Einzelne Aspekte des Reutlinger Projekts werden auch anderswo schon umgesetzt. Dass Sensoren zum Einsatz kommen und modernste Technik so umfassend angewendet wird wie in Reutlingen, ist der Hauptgeschäftsführerin des Handelsverbandes im Land, Sabine Hagmann, nicht bekannt. Drei Millionen Euro habe aber auch kaum eine Kommune dafür einzusetzen. Dennoch sagt Hagmann: „Den Städten muss klar sein, die Digitalisierung wird sie verändern.“ Kommunen und Handel müssten auch anderswo gemeinsam Geld in die Hand nehmen, um künftig noch Besucher in die Städte zu locken.