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Von Oliver Stortz
Stuttgart - Was geht in einem Vater vor, dessen Kind 15 Menschen ermordet hat? Das ist die menschliche Frage, die zum Auftakt des Prozesses um den Amoklauf von Winnenden und Wendlingen die Zuhörer im Saal 1 des Stuttgarter Landgerichts beschäftigt. Die juristische Frage, die die 18. Große Strafkammer unter dem Vorsitzenden Richter Reiner Skujat zu klären hat, ist freilich eine andere: Welche Mitschuld hat Jörg K. an den Ereignissen des 11. März 2009, jenem Mittwoch vor eineinhalb Jahren, an dem sein Sohn Tim zum kaltblütigen Killer mutierte? So unbegreiflich die Motive des Amokläufers von Winnenden und Wendlingen auch sind, so detailreich ist der Tatablauf mittlerweile rekonstruiert. Dass dem 17-jährigen Tim die großkalibrige Pistole des Vaters als Mordwaffe diente, ist der Angelpunkt des Prozesses. Und dass Jörg K. die Beretta Typ 92 FS vorschriftswidrig in seinem Kleiderschrank im Schlafzimmer aufbewahrte anstatt im Tresor, ist die Tatsache, die ihn in den Augen der Staatsanwaltschaft und der 41 Nebenkläger, die gestern größtenteils persönlich vor Gericht erschienen sind, zum Mitverantwortlichen für den Massenmord macht.
Eklat um Fotoaufnahmen
Jörg K. gibt sich wortkarg. Er nennt Name und Geburtsdatum. Und er gibt auf Nachfrage Skujats auch eine ladungsfähige Anschrift an. Dabei handelt es sich freilich nicht um die neue Privatadresse der Familie, die aus ihrem schmucken Einfamilienhaus im Leutenbacher Ortsteil Weiler zum Stein ausgezogen ist, sondern um den Sitz von K.'s Firma im Landkreis Ludwigsburg. Zur Tat äußert sich der 51-Jährige nicht. Und sein Auftritt macht den Angehörigen, die große Erwartungen in den Prozess setzen, wenig Hoffnung, dass er an einem der kommenden 26 Verhandlungstage sein Schweigen brechen könnte.
Gleich zu Beginn provoziert der Unternehmer einen Eklat. K. weigert sich, den Gerichtssaal zu betreten, so lange dort Kamerateams auf ihn warten. Das Gericht hatte Aufnahmen vor Beginn der Hauptverhandlung ausdrücklich zugelassen. Als K. schließlich in Begleitung seiner Verteidiger in den Saal kommt, sieht sich Skujat zur Klarstellung genötigt. Es sei nicht so, dass er es dem Angeklagten habe ermöglichen wollen, sich den Fotografen zu entziehen. Es habe ihm aber an einem Rechtsmittel gemangelt, K. rechtzeitig auf die Anklagebank zu zwingen. Der Prozessauftakt um das schwerste jemals im Südwesten verübte Kapitalverbrechen bekommt eine kafkaeske Note.
Keine Fotos, keine Aussage - es bleibt der äußere Eindruck, den der Mann, den viele für seinen Sohn büßen sehen wollen, hinterlässt. Jörg K. ist ein Mann von korpulenter Statur, den Bart kurz geschnitten, sichtbar gezeichnet von den vergangenen Monaten. Er leide an Bluthochdruck und sei am Rande seiner körperlichen und psychischen Kräfte, sagt sein Verteidiger Hans Steffan. „Auch unser Mandat gehört mit zu den Trauernden“, sagt Hubert Gorka, der zweite Anwalt des 51-Jährigen. Unabhängig vom Tatbestand, den das Gericht am Ende erkennen wird und der unter den Juristen höchst umstritten ist, fordert Gorka Straffreiheit für Tims Vater. „Verhängung von Strafe wäre offensichtlich verfehlt“, sagt der Jurist. Die Familie habe „soziale Isolierung bis hin zum Verlust der früheren Identität“ erfahren. An die Nebenkläger appelliert er, „zu unterscheiden zwischen der Tat des Sohnes und dem Handeln des Vaters“.
Die Angehörigen sind konsterniert. Opfer-Anwalt Uwe Krechel wirft der Verteidigung vor, deren Erklärung sei „nicht geschickt“ gewesen. Er mahnt, es sei „etwas mehr Einfühlsamkeit geboten“. Krechel vertritt unter anderem Hardy Schober, dessen Tochter Jana von Tim K. ermordet wurde. Schober hatte gemeinsam mit weiteren Angehörigen das Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden gegründet, das sich für eine Verschärfung des Waffenrechts und für das Verbot gewaltverherrlichender Computerspiele einsetzt.
Fahrlässige Tötung denkbar
Als Skujat nach gut eineinhalb Stunden die Sitzung schließt, ist die Ernüchterung groß. Alles deutet darauf hin, dass der Mammutprozess vor allem ein Schaulaufen der Juristen sein wird. Um die zentrale Frage etwa, ob nur ein Verstoß gegen das Waffengesetz vorliegt oder ein Fall von fahrlässiger Tötung. Obwohl die Anklage auf Ersteres lautet, betont das Gericht überraschend deutlich, dies sei noch zu klären. Ein Tötungsdelikt könnte eine härtere Strafe für Jörg K. nach sich ziehen. Das Gesetz sieht einen Strafrahmen von bis zu fünf Jahren Haft vor. Kommt es zu einer Verurteilung wegen Verstoßes gegen die Aufbewah‑ rungsvorschriften für seine Waffe, droht K. nur eine Geldstrafe.
Die menschlichen Fragen an den Vater Jörg K. könnten unbeantwortet bleiben, fürchten viele.
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