Im Vorfeld der Entscheidung über die Landkreisreform wird in den Kreisen Esslingen und Nürtingen kontrovers und emotional argumentiert. Foto: EZ-Archiv - EZ-Archiv

In der Jubiläumsserie geht es um das Jahr 1971.

Kreis Esslingen Die Bundesregierung unter Bundeskanzler Willy Brandt setzt den Weg der Entspannungspolitik und der Aussöhnung mit ihren Nachbarn in Osteuropa auch im Jahr 1971 fort. So nimmt die Bundesrepublik nach den Verträgen mit der UdSSR und Polen auch Gespräche mit der Tschechoslowakei über eine Normalisierung des Verhältnisses auf.

Walter Ulbricht tritt als SED-Parteichef zurück. Sein Nachfolger wird Erich Honecker. Ungeachtet der Tatsache, dass die DDR an der deutsch-deutsche Grenze Minen verlegt und Stacheldrahtzäune gebaut hat, werden zwischen Ost- und Westberlin Telefonverbindungen eingerichtet, der Vertrag über den Transitverkehr zwischen der Bundesrepublik und Westberlin wird unterzeichnet. Im Dezember wird Willy Brandt als erster Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Damit wird die Ostpolitik des Bundeskanzlers und ihre Wirkung beim Abbau der Konfrontation zwischen den Machtblöcken gewürdigt.

Zwischen Liberalisierung und harter Hand

Mit der Vorstellung einer entwicklungspolitischen Konzeption legt die Bundesregierung erstmals Leitlinien für ein über Europa hinaus wirkendes politisches Handeln fest. Innenpolitisch versucht die Regierung, einen Weg zwischen gesellschaftlicher Liberalisierung und, angesichts einer wachsenden Radikalisierung der linken Opposition bis hin zur terroristischen Bedrohung, einer Politik der harten Hand zu finden. Trotz einiger Verhaftungen und auch des Todes mutmaßlicher oder tatsächlicher Mitglieder der sogenannten Baader-Meinhof-Gruppe bei Polizeieinsätzen werden die mutmaßlich führenden Köpfe nicht ausfindig gemacht. Das Bundeskriminalamt baut deshalb den Fahndungsapparat massiv aus, die Rasterfahndung wird eingeführt.

Nachdem sich 374 Frauen in der Illustrierten „Stern“ dazu bekannt haben, abgetrieben zu haben, kommt eine öffentliche Debatte über Frauenrechte in Gang. Im August wird das Bundesausbildungsförderungsgesetz (Bafög) beschlossen, das Chancengleichheit im Bildungswesen garantieren soll. Ein Städtebauförderungsgesetz soll dazu beitragen, die Bodenspekulation in den Großstädten zu bekämpfen. Im November wird das Betriebsverfassungsgesetz beschlossen, die Betriebsräte erhalten erheblich erweiterte Mitwirkungsrechte.

Knappe Mehrheit für Kreisstadt

Im Juli beschließt der baden-württembergische Landtag eine Kreisreform. Dabei wird auch beschlossen, die beiden Landkreise Esslingen und Nürtingen zu einem Großkreis Esslingen zusammen zu legen. Mit knapper Stimmenmehrheit fällt die Entscheidung, dass die Stadt Esslingen Kreisstadt werden soll. Damit findet auch eine seit geraumer Zeit erbittert geführte Debatte ein Ende. Während in Nürtingen viele Stimmen für den Erhalt des status quo plädiert hatten, hatten die Esslinger auf die Vergangenheit der Stadt als freie Reichsstadt und ihren folglich „ganz natürlichen Anspruch als Kreissitz“ verwiesen. Eine „Liga für demokratische Verwaltungsreform“ hatte sogar versucht, die Kreisreform per Volksentscheid über die Auflösung des Landtags insgesamt zu kippen.

Der EZ-Verleger Otto Wolfgang Bechtle schreibt dazu in einem Leitartikel, dass mit dieser Entscheidung „ein Sieg der Vernunft“ zu verzeichnen sei, hätten doch die Sachargumente mehr Gewicht erhalten, als die Beiträge der Verfechter der Nürtinger Sache, die „als Ausdruck bloßer Emotionen“ zu verstehen gewesen seien. Allerdings dürften „keine billigen Triumphgefühle Platz greifen“. Vielmehr sollte „alles getan werden, den Nürtingern das Gefühl der Niederlage zu nehmen“. Das Kreisreformgesetz tritt schließlich am 1. Januar 1973 in Kraft.